Wissensmanagement in Zeiten des hybriden Arbeitens

Gabriele Vollmar, VOLLMAR Wissen+Kommunikation

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Die Covid-Pandemie hat der skeptischsten Führungskraft in den letzten Monaten eindrücklich gezeigt, dass die Mitarbeitenden auch dann fleißig sind, wenn sie nicht vor Ort im Büro arbeiten. Sie hat außerdem zu einem signifikanten Digitalisierungsschub in Organisationen geführt: Nicht nur stehen technische Plattformen für die virtuelle Kollaboration mittlerweile in nahezu allen Organisationen zur Verfügung, sie werden auch kompetent von den Mitarbeitenden genutzt. Gemäß einer aktuellen Befragung der Unternehmensberatung BCG wünschen sich 60% der befragten Arbeitnehmer:innen nach Ende der speziellen Covid-Situation an zwei bis drei Tagen von zu Hause zu arbeiten. Nur 9% wünschen sich eine komplette Rückkehr ins Unternehmen, nur 10% wünschen sich ausschließlich von zu Hause zu arbeiten. Beim Touristikkonzern TUI dürfen Mitarbeitende zukünftig an 30 Tagen im Jahr von irgendwo auf der Welt arbeiten, Voraussetzung: stabiles Wlan. Das aus einem internem Projekt beim Chemiekonzern BASF hervorgegangene Start-up 1000 Satellites bietet Co-Working Spaces in der Provinz, z. B. auf einem idyllischen Weingut in der Pfalz, nicht allzu weit vom Konzernsitz in Ludwigshafen. Mitarbeitende sind also zwar in einem Büro mit anderen Menschen, nicht aber zwangsläufig mit den Mitgliedern ihres Teams.

Hybrides Arbeiten: Mischung aus Arbeiten vor Ort (analog) und remote (digital). Dies führt zu hybriden Teams, d.h. ein Teil des Teams arbeitet analog, ein Teil digital an gemeinsamen Aufgaben

Hier ist (nicht nur) durch Covid einiges in Bewegung geraten. Welche Auswirkungen hat die Entwicklung hin zum hybriden Arbeiten auf den Umgang mit Wissen, vor allem das Teilen von Wissen und die Entwicklung von neuem Wissen?

Informations-Asynchronizität

Jede:r, der:die schon einmal remote an einer Besprechung teilgenommen hat, bei der der ‚andere‘ Teil der Teilnehmenden gemeinsam in einem Raum war, kennt das Gefühl des Ausgeschlossenseins und der asynchronen Information: In der Regel fehlt eine angemessene Technik für ein durchgängig gutes Raumaudio, d.h. eine freie Diskussion in der Präsenzgruppe ist remote kaum bis gar nicht zu verstehen. Wer hat in solchen Situationen sich nicht schon innerlich von der Besprechung verabschiedet und begonnen parallel an anderen Dingen zu arbeiten? Im Falle von hybriden Besprechungen kann dem recht einfach entgegengewirkt werden (abgesehen von einer verbesserten Raumtechnik):

  • wesentliche Informationen konsequenter verschriftlichen (und zwar nicht auf dem Flipchart im Raum, sondern auf einem virtuellen Whiteboard);
  • als Moderator:in darauf achten, die remote zugeschalteten Kolleg:innen immer wieder aktiv einzubeziehen und anzusprechen;
  • als Gruppe Diskussionen so gestalten, dass remote gefolgt werden kann (Nähe zu Mikros suchen, nacheinander, nicht überlagernd sprechen usw.);
  • als Remote-Teilnehmer:in auf die eigene Sichtbarkeit achten und sich regelmäßig zu Wort melden, auch mit dem Hinweis nicht mehr folgen zu können bzw. eine Verschriftlichung einzufordern.

Das Risiko der asynchronen Informiertheit in hybriden Teams manifestiert sich in Besprechungssituationen besonders deutlich, geht aber darüber hinaus. Und ist nicht überall mit so einfachen Mitteln zu lösen. Während der remote Arbeitende auf die IT-gestützten Informationskanäle angewiesen ist, nutzen die Kolleg:innen vor Ort – bewusst und unbewusst – zahlreiche zusätzliche informelle Kommunikationsmöglichkeiten. Der Flur funkt in der Regel vor Ort. Dieser Schiefstand kann sich verstetigen und verstärken, wenn nicht alle Teammitglieder gleiche Anteile an on-site und remote Arbeiten haben. Das Unternehmen Vitra unterscheidet diesbezüglich vier Arbeitstypen in der hybriden Welt:

  • Workplace Resident, deren:dessen Arbeit nicht remote erledigt werden kann;
  • Workplace Enthousiast, die:der remote arbeiten könnte, aber trotzdem überwiegend ins Büro kommt;
  • Workplace Citizen, die:der überwiegend oder ausschließlich remote arbeitet;
  • Nomad Worker, die:der agil an ganz unterschiedlichen Orten arbeitet.

Laut einer Untersuchung der Personalberatung apriori streben Mitarbeitende mit besonders hoher Leistungs-, Erfolgs- und Karriereorientierung nach einer Arbeit in der B-Welt (Bürowelt, on-site), weil sie dort ihre persönliche Zielsetzung besser erreichen können (vgl. https://www.apriori.de/wp-content/uploads/2021/03/APRIORI_RemoteWorkStrategy.pdf). Erste Untersuchungen der Arbeitssituation vor und nach Corona deuten außerdem an, dass die Wahl des überwiegenden Arbeitsortes und damit das Risiko der Informations-Asynchronizität im Team auch eine Genderthematik birgt: So entscheiden sich Frauen, vor allem solche mit Kindern, verstärkt für das remote Arbeiten, Männer eher für die Präsenz (vgl. Schröter, T.: Homeoffice vor und nach Corona: Auswirkungen und Geschlechterbetroffenheit. Ifo Schnelldient 14/2020, ifo Institut, München 2020).

Wissensmanagement, im Sinne eines bewussten Umgangs mit Daten, Informationen und Wissen, kann hier jenseits der technologischen Möglichkeiten durch intelligent definierte Prozesse und Standards dabei helfen einem Informations-Schiefstand, vor allem einem dauerhaften, entgegenzuwirken. So kann über Team-Rituale, aber auch über klare Vorgaben ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, auch nicht anwesende Kolleg:innen konsequent einzubeziehen, indem z. B. relevante Informationen verschriftlicht werden, auch bei spontanen Besprechungen geprüft wird, ob ein:e an diesem Tag remote arbeitende:r Kolleg:in ebenso spontan ‚zugeschaltet‘ wird, es Regeln für die Erreichbarkeit im so genannten Home Office gibt und generell Vorgaben, wann und wozu an welchem Ort gearbeitet werden sollte usw. Solche klaren und transparenten Regeln der (Zusammen)Arbeit erscheinen zwar auf den ersten Blick als Spielverderber in der wunderbaren Welt des agilen und flexiblen Arbeitens, helfen aber nicht nur eine dauerhafte Informations-Asynchronizität zu vermeiden, sondern auch bei anderen im Folgenden erläuterten nachteiligen Nebeneffekten des hybriden Arbeitens.

A propos, konsequente Verschriftlichung von Informationen (oder manchmal auch nur Kommunikation): Hier haben sich in den letzten Monaten die technologischen Werkzeuge, die über die Kollaborationsplattformen fast überall Einzug gehalten haben, als Fluch und Segen gleichermaßen erwiesen. Segen, weil eine einfache, auch spontane und dynamische Kommunikation unter Einbeziehung aller (s.o.) möglich ist, Fluch, weil aus Sicht eines nachhaltigen Wissensmanagement viele relevante Informationen im Strom der Chatkommunikation verloren gehen. Es fehlt das Bewusstsein – und auch wieder entsprechende klar definierte Prozesse und Vorgaben – dauerhaft relevante Inhalte aus dem Chatstrom zu fischen und in langfristig zugreifbare und strukturierter durchsuchbare Repositories zu überführen. Gelingt dies nicht, besteht das Risiko das Rad immer wieder neu zu erfinden – ein uraltes Wissensmanagement-Thema. Technologische Lösungen, z. B. über intelligente automatisierte Datenvernetzung, semantisch gestützte Suchen usw. sind meiner Erfahrung nach noch nicht so weit, wie von den Anbietern dargestellt, um hier ein menschliches Eingreifen überflüssig zu machen.

Die Flut der unstrukturierten Verschriftlichung einhegen, um den Schritt von Daten und Informationen hin zu Wissen zu unterstützen, gleichzeitig unterschiedliche Kanäle, mündliche und schriftliche, zu synchronisieren, um Informations-Asynchronizität wenn nicht zu vermeiden, so doch abzumildern, dies sind Handlungsfelder, auf denen Wissensmanagement gefordert ist.

Serendipity oder der Watercooler-Effekt

Das Unternehmen Google, dem man nun sicherlich nicht Technologieskepsis und allgemeine Rückständigkeit hinsichtlich der Arbeitsformen vorwerfen kann, hat für das neue Normal des hybriden Arbeitens angeregt, dass die Mitarbeitenden an drei Tagen, und zwar an den drei selben Tagen gemeinsam vor Ort im Büro arbeiten. Dabei geht es dem Unternehmen vermutlich nicht um verstärkte Kontrolle der Arbeitsleistung, sondern um die Aufrechterhaltung von Kreativität und Innovativität im Team. So hat eine Studie der Harvard University gezeigt, dass remote Arbeiten wenig förderlich für Spitzenleistungen bei kognitiv anspruchsvollen Aufgaben ist.

Serendipity: eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist (vgl. Merton, R. (1957) Social Theory and Social Structure. The Free Press, Glencoe).

Watercooler Effect: die treibende Kraft, die entsteht, wenn zwei oder mehr Personen ein informelles Gespräch von Angesicht zu Angesicht führen

Warum ist dies so? Durch das remote Arbeiten finden ungeplante Kommunikation, zufälliger und informeller Austausch sowie Wissenstransfer seltener statt. Zufallsmomente an Erfahrungen anderer zu gelangen oder andere beim Arbeiten zu beobachten sowie Zufallseffekte, die bereits zu Innovationen geführt haben, gehen teilweise verloren, weil man sich eben nicht zufällig, sondern gewollt zusammenfindet. Selbst wenn die Teammitglieder sich kennen, herrscht online eine gehemmtere Stimmung und es finden, vergleichsweise zum gruppenweisen Tratsch in der Kaffeeküche, andere Gespräche statt, weil man sich immer mit allen unterhält. Auch wenn es zahlreiche Tipps und auch Tools zur Virtualisierung der so genannten Kaffeeküchengespräche gibt, entsteht hier doch selten ein echter Watercooler Effect.

Im Falle des hybriden Arbeitens wird dieser Nachteil etwas abgemildert, weil ein Teil des Teams vor Ort die Kaffeeküche eben wie gewohnt nutzen kann, aber es ist eben immer nur ein Teil des Teams, wenn nicht, wie bei Google, über entsprechende Vorgaben die Anwesenheit geregelt ist (Erzeugung von Zufall durch Regulierung – isn’t it ironic?). Der Innovationskraft des Teams schadet es nach Meinung der Autorin, wenn sich das Team durch ständig wechselnde individuelle Anwesenheiten immer wieder vor Ort quasi neu zusammensetzt ebenso wie wenn sich hier teaminterne Strukturen verfestigen, weil immer dieselben Personen vor Ort bzw. nicht vor Ort sind.

Ba, der Wissensraum

Die Generierung neuen Wissens in einer Organisation und damit Innovation ist keine Einzelleitung, wenn man Nonakas und Takeuchis SEKI-Modell folgt, sondern ein Produkt eines dynamischen Austausches, des Wissen Teilens in einer Gruppe. Voraussetzung dafür ist der so genannte ba, der Wissensraum: ein Raum des gegenseitigen Vertrauens und gemeinsamen Verständnisses. Wissen als dynamischer kontext- und personenbezogener Prozess erfordert einen Wissensraum, der diesen Prozess umgibt, ermöglicht und unterstützt. Wissen ist laut Nonaka und Konno in den ba eingebettet und wird dort durch eigene Erfahrung oder eben über die Reflexion der Erfahrung anderer erlangt, sowohl individuell als auch kollektiv und letztlich auf Ebene der Organisation. Der ba stellt eine Plattform für die Entwicklung individuellen, vor allem aber kollektiven Wissens dar. Vertrauen und unmittelbare Wertschätzung sind eine wesentliche Grundlage des Wissen Teilens.

Eine Studie von Microsoft gemeinsam mit Boston Consulting und KCR Research sieht hier große Herausforderungen für Organisationen, wenn es um hybrides Arbeiten geht, ohne den ba dabei explizit zu benennen: “So, the challenge for businesses is to ensure the sense of comradery, unity and psychological safety that comes naturally when people are sat together every day in the same location is ported across to teams that are now working in a more hybrid way.” (vgl. Work.Reworked.2020)

Hybrides Arbeiten, vor allem wenn es überwiegend dieselben Personen sind, die einen Großteil der Arbeit remote erledigen, birgt das Risiko einer Zunahme von Silodenken bei der Informations- und Wissensweitergabe bei gleichzeitigem Rückgang des informellen individuellen Lernens. Es entstehen Informationsblasen: vereinzelte Blasen der überwiegend oder ausschließlich remote Arbeitenden und die Blase der überwiegend gemeinsam vor Ort Arbeitenden, gewissermaßen ein Team im Team. Dadurch leidet das kollektive Lernen im gesamten Team und letztlich auch das organisationale Lernen.

Hier sind die Führungskräfte gefordert, den Team Spirit aufrechtzuerhalten und ein Zusammenrücken der Büro-Kolleg:innen gegen die remote Arbeitenden zu vermeiden. Rituale, um die Verbindung zwischen den Teammitgliedern zu stärken und ein bewussteres Monitoring von Stimmung, Kultur und Performance im Team können dabei unterstützen. Nicht nur Führungskräfte müssen außerdem davor auf der Hut sein, diejenigen Kolleg:innen, die (überwiegend) remote arbeiten, nicht nur über ihren output, sondern auch auf die Distanz hin immer noch als ‘vollständigen’ Menschen wahrzunehmen.

Und nun?

Die Entwicklung hin zu einem hybriden Arbeiten wird nicht aufzuhalten sein bzw. ist die Situation vielerorts ohnehin längst eingetreten. Aber diese schöne neue Welt ist nicht umsonst zu haben. „Zumindest unklare, aus unserer Sicht vermutlich sogar negative Auswirkungen auf die Produktivität, Kosten und Unternehmenskultur bei gleichzeitig steigendem Führungs-, Planungs- und Steuerungsaufwand lassen dieses Szenario zumindest nur dann sinnvoll erscheinen, wenn es durch das Management sorgfältig durchdacht und umgesetzt wird.“ (vgl. https://www.apriori.de/wp-content/uploads/2021/03/APRIORI_RemoteWorkStrategy.pdf)

Der intelligente Umgang mit Wissen in einem hybriden Kontext stellt neue Anforderungen an das Wissensmanagement. Diese gehen über Aspekte der Daten- und Informationssicherheit beim Arbeiten nicht nur von zuhause, sondern gegebenenfalls auch an nicht organisationsinternen Co-Working Spaces oder anderen quasi öffentlichen Orten und technologie-bezogene Anforderungen hinsichtlich einer sinnvollen Verknüpfung von IT-Werkzeugen zu einem echten digitalen bzw. hybriden Workspace hinaus.

Die Funktion von Wissensmanagement wird zunehmend der Aufbau und die Erhaltung einer starken Lernkultur und die Ermöglichung von Lernen sowohl auf individueller als auch vor allem auf kollektiver und organisationaler Ebene sein. Dies ist in einem hybriden Kontext noch weniger selbstverständlich oder quasi emergent als es dies in traditionellen Arbeitskontexten je war. Wie so oft geht es um eine Bewusstmachung der spezifischen Herausforderungen hinsichtlich des Umgangs mit Wissen: Risiko der Blasenbildung und eines Wiedererstarkens des Silodenkens, der Informations-Asynchronizität, Verlust des ba als Grundlage des Wissen Teilens und kollektiven Lernens, Schwächung der Innovationskraft usw. Hier sind nicht nur die Führungskräfte gefordert, sondern jede:r Einzelne. Und schließlich auch die Organisationen: Wie kann das Büro zu einem Ort werden, an dem das Unternehmen sich manifestiert und vor allem (informelles) Lernen stattfindet?

Wissensmanagement ist gefordert, die genannten Themen zu adressieren und praktikable Lösungen zu entwickeln – und dabei in einem falschen Verständnis von Agilität auch vor klaren und transparenten Regeln nicht zurückzuschrecken. Als erster Schritt genügt ja vielleicht schon eine altbekannte Wissensmanagement-Methode, nämlich regelmäßige Retrospektiven mit dem Team zum hybriden Arbeiten selbst: Was waren letzte Maßnahmen? Wie hat das unsere Arbeit beeinflusst? Denn wie so oft im Wissensmanagement gibt es auch für diese neuen Herausforderungen keine Patentrezepte, die für alle gleichermaßen passen. Also lassen Sie uns unsere Erfahrungen machen und im Austausch gemeinsam daraus lernen!


Gabriele Vollmar beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit Fragestellungen rund um Wissensmanagement, seit 16 Jahren als Unternehmensberaterin. Sie ist Mitglied im Fachbeirat der GfWM, hat mehrere Lehraufträge zu Wissensmanagement und ist Autorin zahlreicher Publikationen.


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Über diesen Beitrag Text: Gabriele Vollmar · Redaktion: Stefan Zillich, Andreas Matern · Abbildung: jarmoluk / pixabay · Editorial Design: Stefan Zillich, re:Quest Berlin · Veröffentlicht in: Kuratiertes Dossier “Wissensmanagement – New Normal”, Online Magazin StartseiteGedruckte Ausgabe bestellen · Über die Reihe “Das Kuratierte Dossier” · © AutorInnen / GfWM e. V. 2021 · Kontakt zum Redaktionsteam