Mustersprache und Wissenstransfer

Generationenübergreifende Weitergabe von Erfahrungen mittels Mustersprachen am Beispiel Wissenstransfer

Frankfurt Knowledge Group „Die Transfernaut:innen“

Knowledge Management Essentials • Das Kuratierte Dossier, Band 5 • März 2023
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Börsen- und Nachrichtenticker unter Glasglocke, 1873, USA. Mit dem Ticker wurden Ende des 19. Jahrhunderts aktuelle Informationen und Wissen mit strukturierten Texten und gemeinsam vereinbarten Codes erstmals als professionelle Nachrichtendienste über große Distanzen und in Echtzeit zur Verfügung gestellt. (Bildquelle: Smithsonian Institution, USA, CC0)

„Jeder hat nur dann ein Recht, seine inneren Erfahrungen auszusprechen, wenn er auch seine Sprache dafür zu finden weiß.”
(Friedrich Nietzsche (1844-1900), aus Nachgelassene Fragmente, 1874)

Katja und Jürgen sind zwei erfahrene Wissenstransferbeleiter:innen. Eines Tages klagen sie sich beim Kaffeeautomaten ihr Leid. Sie werden oft zu spät mit einem Transferprozess beauftragt. Trotzdem wird von ihnen erwartet, dass sie das „ganze“ Wissen einer ausscheidenden Person herausholen und sichern. Sie tauschen sich über ihre bewährten Strategien aus, um unter diesen Umständen möglichst viel erfolgsrelevantes Wissen in der Organisation zu erhalten. Damit haben sie ihre „Sprache“ in Form eines Erfolgsmusters gefunden, um mit der knappen Ressource Zeit weiterhin gut umgehen zu können.

Was Katja und Jürgen in unserer Geschichte intuitiv bewerkstelligt haben, hat der Mathematiker und Architekt Christopher Alexander in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in seinem Konzept der Mustersprache expliziert. Unter Verwendung seines Konzepts hat er die weltweit erste Mustersprache „A Pattern Language: Towns – Buildings – Construction“ (siehe Alexander et al. 1977) als Planungswerkzeug für menschengerechte Architektur veröffentlicht.

Mustersprachen gehen über traditionelle Formen der Dokumentation von Informationen hinaus. Gerade die Entwicklung einer Mustersprache bietet Expert:innen eines Fachgebiets einen kreativen Rahmen, in dem sie kollaborativ ihr tiefes Erfahrungswissen entdecken und für Andere verständlich formulieren. Dieses große Potential von Mustersprachen wurde bereits in einigen Fachdomänen erkannt. Zur Veranschaulichung werden nachfolgend einige Beispiele aufgeführt:

  • Die Softwareentwickler-Community war eine der ersten, die das Konzept aufgriffen. Die sog. Gang of Four (siehe: Gamma/Helm/Johnson/Vlissides 1995) hat Wissen und Erfahrung von Softwareentwicklern in ihrer Mustersammlung zusammengetragen, kategorisiert und den Mustern eingängige Namen gegeben. Sie wurde unverändert in viele Sprachen übersetzt und ist mittlerweile zum unverzichtbaren Teil der Ausbildung von Programmierer:innen geworden.
  • Iba et al. entwickelten viele Mustersprachen, insbesondere eine zur Unterstützung von demenzkranken Menschen und deren Angehörigen gemeinsam mit der Dementia Friendly Japan Initiative und erhielten mehrere Auszeichnungen für ihre Arbeit, u.a. den Grand Prix of Dementia Friendly Award 2015 in Japan (Iba Lab & DFJI 2014).
  • Grundschober (siehe Grundschober 2019) hat aus 13 verschiedenen Mustersprachen jene Handlungsmuster extrahiert und in einer Mustersammlung strukturiert, die Feedback-orientiertes Lernen und Lehren mit dem ePortfolio in der Hochschule fördern.
  • In der Mustersprache für gute Zusammenarbeit in Städten (InterQuality Architekten 2018) haben Interessierte und Fachleute aus ganz Deutschland die Fundamente gemeinwohlorientierter Stadtentwicklung gelegt.

Dennoch ist das Konzept der Mustersprachen vergleichsweise wenige Male umgesetzt worden. Die Autor:innen dieses Beitrages haben eine weitere Mustersprache zum Thema Wissenstransfer entwickelt, um ihr Erfahrungswissen aus hunderten von Wissenstransferprozessen zu sammeln, filtern und zu sichern. Im Zuge dieses Entwicklungsprozesses wurde das enorme Potential der Mustersprachen sichtbar. Der vorliegende Beitrag erläutert das Prinzip der Mustersprachen zum Heben und Verbreiten von bewährtem Erfahrungswissen. Die durchweg positiven Erfahrungen mit der Mustersprache „Wissenstransfer“ lassen die Autor:innen für eine stärkere Rezeption des Konzepts im Wissensmanagement plädieren.

Muster, Mustersprache und Entwicklungsprozess

Eine Mustersprache ist eine geordnete Sammlung von Lösungen für gängige, wiederkehrende Probleme in einem Wissensgebiet. Jedes Muster (engl. design pattern) enthält eine Kombination aus einer allgemeingültigen Lösung für ein relevantes Problem und dessen Kontext. Wie in einer natürlichen Sprache sind die Muster das Vokabular des Fachgebiets. Die Muster einer Mustersprache sind miteinander über Beziehungen verknüpft. Durch diese Vernetzung können die für den Anwendungsfall geeigneten Muster zu einer hochwertigen Gesamtlösung kombiniert werden.

Die Mustersprache ist das dokumentierte Ergebnis eines Entwicklungspro­zesses von erfahrenen Expert:innen in einem Wissensgebiet mit dem Ziel, ihr Erfahrungswissen zu sichern und für andere nutzbar zu machen. Das zu erzeugende Artefakt besteht aus einer Sammlung von kurzen Textbei­trägen, die stets eine einheitliche Struktur (mindestens: Name, Kontext, Problem-/Aufgabenstellung und Lösungsweg) aufweisen. Aus der Perspektive des Wissensmanagements ist die Erweiterung dieser Grundstruktur auf multimediale Muster denkbar, die neben Text andere Medien wie Bild und Ton enthalten.

Im Prozess der Mustersprachenentwicklung lassen sich folgende Phasen (siehe Abbildung 1) unterscheiden:

  1. Vorbereitungsphase (Preparation Phase)
  2. Erhebungsphase (Research Phase)
  3. Produktionsphase (Production Phase)
  4. Verknüpfungsphase (Pattern Linkage Phase)
  5. Nutzbarmachungsphase (Usability Preparation Phase)
  6. Verbreitungsphase (Dissemination Phase)

Diese Phasen reflektieren einige der Bausteine, die häufig in Wissensmanagementmethoden zu finden sind, beispielsweise die Identifikation, Entwicklung, Bewahrung, Verteilung und Nutzung von Wissen (vgl. Probst et al., 2013).

Abbildung 1: Entwicklungsphasen einer Mustersprache

In der Vorbereitungsphase geht es darum, das Wissensgebiet (oder einen Ausschnitt daraus) auszuwählen und geeignete Personen zur Mitarbeit zu gewinnen.

Katja lernt das Konzept der Mustersprache durch Jens, einen Kollegen in ihrem Wis­sensmanagement-Expert:innen Netzwerk, kennen. Sie fragt Jürgen und die Trans­ferbegleiter:innen in ihrer Organisation, ob sie bei der Entwicklung einer Mustersprache für Wissenstransfer mitmachen wollen, um ihre gemeinsamen Erfahrungen festzuhalten. Nachdem sie ihnen das Konzept und seinen Nutzen vorgestellt hat, erklären sich Jürgen und zwei weitere Personen bereit mitzumachen. Jens wird der Autor:innen-Gruppe mit Rat und Tat zur Seite stehen.

In der Erhebungsphase beginnt die Entwicklungsarbeit. Muster werden aus dem Erfahrungsschatz der Autor:innen herausgeschält und mit treffenden Namen bezeichnet.

Katja lädt alle zu einem Musterschürf-Workshop (Pattern Mining) ein, den Jens moderiert. Sie erzäh­len sich gegenseitig von den Wissenstransfers, die sie begleitet haben. Besonderes Augenmerk legen sie auf Vorgehensweisen, die unter bestimmten Bedingungen immer wieder zum Erfolg geführt haben. Während sie sich über ihre jeweiligen Erfahrungen in verschiedenen Wissenstransfersituationen austauschen, finden sie ganz verschiedene bewährte Lösungen für identische Ausgangssituationen. Für die Gruppe ist es eine neue Erfahrung in der Zusammenarbeit, dass es nicht notwendig ist, die eine richtige Lösung auszudiskutieren. Jede Perspektive hat ihre eigene Gültigkeit und reichert den Austausch enorm an. Weder Meinungen noch Modelle aus der wissenschaftlichen Theorie finden bei der Sammlung von bewährten Vorgehensweisen Beachtung, nur die Erlebnisse und Erfahrungen der einzelnen Beteiligten dienen als Arbeitsgrundlage. Die Kernpunkte schreiben sie auf Kärtchen. Durch Clustern der Kärtchen finden sie die ersten Muster, denen sie passende Namen geben. Eines davon ist nicht ganz unerwartet Umgang mit der knappen Ressource Zeit.

Die Produktionsphase enthält die “Knochenarbeit” im Entwicklungsprozess. Die Autor:innen arbeiten in Kleingruppen jedes gefundene Muster aus und ergänzen visuelle Elemente. Jedes Muster wird sorgfältig redigiert und um eine Kurzbeschreibung ergänzt.

Jens bietet an, den ersten Musterschreib-Workshop (Pattern Writing) gemeinsam mit der gesamten Autor:innen-Gruppe durchzuführen, damit alle das Konzept einer Mustersprache verstehen und anwenden können. Zu Beginn des Workshops einigen sie sich auf die Grundstruktur eines Musters mit Kontext, Aufgabenstellung, Lösungsweg, Spannungsfeldern, Stolpersteinen und Referenzen (siehe weiter unten im Text ein Beispielmuster). Jens rät ihnen, mit einem einfachen Muster zu beginnen. Die Diskussion über diese Elemente hilft der Gruppe, ein gemeinsames Verständnis zu der Ausgangssituation und der jeweiligen Problemstellung zu finden. Auf der Grundlage dieses gemeinsamen Bildes reflektiert die Gruppe nun, welche potentiellen Fallstricke aus ihrer jeweiligen Erfahrung den bewährten Lösungsweg behindern können (Spannungsfelder und Stolpersteine). Am Ende des Workshops ist so das erste Muster entstanden. Danach arbeitet die Arbeitsgruppe in Kleinteams weiter, bis alle Muster-Cluster verarbeitet sind. In der gesamten Gruppe ergänzen sie die Kurzbeschreibungen und überlegen sich ein visuelles Element je Muster.

In der Verknüpfungsphase erfolgt der Übergang von Einzelmustern zur Mustersprache als Gesamtkonstrukt. Hier werden Musterbeziehungen geknüpft. Mit ihrer Hilfe wird die innere Struktur der Mustersprache festgelegt und es wird Übersichtlichkeit erzeugt.

Die Autor:innen-Gruppe visualisiert die Muster mit Hilfe einer geeigneten Software, durchforstet die Kurzbeschreibungen und ergänzt die Beziehungen zwischen den Mustern. Die Visualisierung mit den Beziehungen hilft ihnen, die Gesamtstruktur der Mustersprache zu erkennen und passende Substrukturen zur Verbesserung der Übersichtlichkeit zu ergänzen. Sie fassen z.B. alle Varianten unterschiedlicher Wissenstransfers in einer Substruktur zusammen.

Die Mustersprache ist bis zu diesem Punkt nur für die Autor:innen (und die ebenfalls eingebundenen Feedbackgeber:innen) verständlich und benutzbar. In der Nutzbarmachungsphase geht es darum, die Mustersprache für die Anwendung durch unterschiedliche Zielgruppen vorzubereiten. Zu den Mustern werden jeweils passende charakterisierende Schlagworte ausgewählt, die später für ein Auffinden mittels einer Suchfunktion genutzt werden können. Falls nötig, werden essenzielle Schlagworte mit Attributen versehen, um das Finden passender Muster für Anwender:innen noch weiter zu erleichtern. Oder es werden Begleiter:innen ausgebildet, die Benutzer:innen bei der Anwendung der Mustersprache beraten und unterstützen.

Die Autor:innen-Gruppe identifiziert mit Unterstützung von Jens mögliche Zielgruppen für ihre Mustersprache. Sie suchen auch nach Schlagworten (Tags), die das Finden von gesuchten Mustern unterstützen. Jedem Muster fügen sie die passenden Schlagworte hinzu. Manche Schlagworte benötigen Attribute, damit die Suche treffsicherer wird. Beispielsweise ist es für das Schlagwort "Wissensgeber:in" wichtig zu wissen, ob überhaupt eine Wissensgeber:in oder mehrere zur Verfügung stehen. Da für solche Fälle unterschiedliche Muster mit jeweils passenden Attributen definiert sind, wird eine entsprechende Suche unterschiedliche Transferprozess-Muster als Treffer ergeben.

Eine ansprechende Präsentation der Mustersprache mit Hinweisen zu deren Ziel und Nutzungsmöglich­keiten runden in der Verbreitungsphase den Entwicklungsprozess ab. Damit ist das Tor zur Weiterver­breitung von gesichertem Erfahrungswissen aus diesem Wissensgebiet sowie der Weiterentwicklung der Mustersprache geöffnet und ein Wiedereinstieg in die Erhebungsphase vorbereitet.

Die Autor:innen-Gruppe holt sich Hilfe bei einem Webdesigner, der der Präsentation der Muster­sprache ein ansprechendes Aussehen verleiht und potenzielle Anwender zielgruppen­gerecht adressiert. Katja und ihr Team begleiten interessierte Anwender beim Einstieg und der Nutzung der Mustersprache. Sie erhalten dadurch immer wieder Anregungen für Verbesserungen und zur Weiterentwicklung ihrer Mustersprache.

Durch breite Nutzung der Mustersprache steigt die Erfahrung der Anwender:innen in diesem Wissensgebiet. Früher oder später werden sie das Hinzufügen weiterer Muster anregen, z. B. weil geänderte Kontexte neue Lösungswege erfordern. Im besten Fall werden sich die betreffenden Anwender:innen an der Entwicklung der neuen Muster beteiligen. Damit beginnt der Entwicklungszyklus von Neuem.

Die Phasen im Entwicklungsprozess müssen keineswegs zwingend sequentiell durchlaufen werden. Je nach den Gegebenheiten werden einzelne Aktivitäten vorgezogen oder mehrmals zyklisch wiederholt (z. B. Musterschürfen, Musterschreiben).

Mustersprache Wissenstransfer

Die Autor:innen sind dem oben beschriebenen Entwicklungsprozess mehr oder weniger strikt gefolgt. Das Artefakt Mustersprache, d. h. die Mustersammlung Wissenstransfer, wurde mit Hilfe von inside, einer Software im Bereich Wissensmanagement, realisiert. Neben den Möglichkeiten der kollaborativen Musterentwicklung bietet inside auch Visualisierungs- und Verknüpfungsfunktionen an. Es ist daher für die Entwicklung und Implementierung von Mustersprachen sehr gut geeignet. Nachfolgend wird die Grundstruktur der Mustersprache skizziert und es wird ein Muster exemplarisch dargestellt.

Struktur der Mustersprache

Die Mustersprache Wissenstransfer gliedert sich in die zwei grundlegenden Säulen Wissen in Fluss bringen organisational und Wissen in Fluss bringen individuell. In beiden Säulen sind die Muster auf vier verschiedenen Ebenen verteilt (siehe Abbildung 2). Die Zuordnung der Muster erfolgt nach deren primärem Verwendungszweck, entweder zu der organisationalen Säule von Wissenstransfer, die über den einzelnen Wissenstransferprozess hinausgeht, oder zu der individuellen Säule, die die einzelnen Phasen von Wissenstransferprozessen abbildet. Um aus einer Anwendungsperspektive die Struktur der Mustersprache besser erfassen und einzelne Muster korrekt verorten zu können, wird ein Farbschema genutzt. Die Säule Wissen in Fluss bringen organisational ist in blauen Farbschattierungen und die Säule Wissen in Fluss bringen individuell in orange eingefärbt. Die Farbschattierungen werden pro Ebene im jeweiligen Farbschema um eine Stufe dunkler (siehe Icons in Abbildung 2). Musternamen werden in der Online-Version dieses Beitrags bold formatiert (in der Druckausgabe unterstrichen formatiert), damit sie im Fließtext sofort als solche erkennbar sind.

In Summe enthält die Mustersammlung aktuell 70 Muster, die den vollständigen Review-Prozess durchlaufen haben. Mehrere einzelne Muster sind darüber hinaus in Planung bzw. Bearbeitung.  Die Autor:innen gehen davon aus, dass mit diesen Mustern das Erfahrungswissen der Wissensdomäne Wissenstransfer ausreichend gut dokumentiert ist, um es den nächsten Generationen zur Anwendung und Weiterentwicklung übergeben zu können.

Abbildung 2: Struktur der Mustersprache Wissenstransfer

Inhaltlich tauchen in der Mustersprache gewisse Querschnittsthemen immer wieder an unterschiedlichen Stellen auf. Ein Beispiel für ein solches Querschnittsthema ist Qualität. Es ist ein relevantes Thema sowohl aus einer Organisations- als auch aus einer individuellen Perspektive und findet sich daher beispielsweise an folgenden Stellen der Mustersprachenstruktur:

  • Organisationale Säule | Übergreifende Ebene | Organisationale Qualitätssicherung im Wissenstransfer
  • Organisationale Säule | Ebene Vorbereitung | Einführung eines ISO-konformen Wissenstransferprozesses
  • Individuelle Säule | Übergreifende Ebene | Qualitätssicherung Wissenstransfer
  • Individuelle Säule | Ebene Nachbereitung | Evaluation des Transfererfolgs

Weitere typische Querschnittsthemen sind Kommunikation, Schaffung von Akzeptanz und die Befähigung von Beteiligten.

Neben solchen Querschnittsthemen lassen sich Subgruppen von Mustern identifizieren, die bestimmte Fragestellungen und Lösungswege vertieft behandeln. Hier ist insbesondere die Mustergruppe Transferprozessvarianten zu nennen, die in der individuell-durchführenden Ebene der Mustersprache zu finden ist. Diese Gruppe allein enthält ca. 15 Muster, die unterschiedliche Formen von Wissenstransfers und die jeweiligen Anwendungskontexte beschreiben. Beispiele für Muster in dieser Gruppe sind:

  • Begleiteter Wissenstransfer
  • Selbstgesteuerter Wissenstransfer
  • Wissenstransfer als Sprint
  • Wissenstransfer zwischen Führungskräften

Die Ebene der Durchführung in der individuellen Säule ist auch der Bereich der Mustersprache, der mit ca. 50 % die höchste Anzahl Muster stellt. Hier finden sich zahlreiche Subthemen, die einzelne Erfahrungs­schwerpunkte in eigenen Mustern thematisieren, etwa

  • Entwicklung einer Ereigniskurve
  • Naiv nachfragen erwünscht
  • Pendeln zwischen Offenheit und Struktur
  • Wissensbedarfsanalyse

Beziehungen in der Mustersprache

Die Muster stehen nicht unverbunden nebeneinander. Ein wesentliches Kennzeichen einer Mustersprache sind die über Beziehungen gesetzten Verknüpfungen zwischen Mustern. Mit Hilfe der Visualisierungs­funktionen in der genutzten Software inside werden diese logischen Verbindungen dargestellt (siehe Abbildung 3). Tabelle 1 zeigt die Beziehungen, die in der Mustersprache Wissenstransfer verwendet werden.

Tabelle 1: Beziehungen zum Verknüpfen von Mustern in der Mustersprache Wissenstransfer

Die hier genannten Verknüpfungsarten haben sich für die Mustersprache Wissenstransfer bewährt. Sie waren nicht alle von Beginn an gesetzt. Vielmehr haben sie sich im Entwicklungsprozess der Mustersprache als nutzbringend herausgebildet, sodass mit ihnen die Beziehungen zwischen Mustern der Domäne Wissenstransfer gut beschrieben werden können. In Mustersprachen anderer Domänen können andere Arten von Beziehungen oder andere Definitionen der Beziehungen zum Einsatz kommen.

Abbildung 3: Beziehungsgraph des Musters Umgang mit der knappen Ressource Zeit

Um die Muster auch innerhalb der strukturierenden Säulen und Ebenen der Mustersprache in logische Reihenfolgen zu bringen, finden sich immer wieder prozessuale Strukturen. D. h. Muster und Muster­gruppen, die üblicherweise aufeinander folgend angewendet werden können, sind zu entsprechenden Musterketten zusammengefasst. Die offenkundigsten Verkettungen dieser Art sind die Ebenen Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung in der individuellen Säule und Vorbereitung, Einführung und Etablierung in der organisationalen Säule. Etwas subtiler und nicht unmittelbar an der Struktur erkennbar sind prozessuale Abfolgen, die mittels der Beziehung führt zu zusammengestellt werden.

Als schönes Beispiel dient uns das Muster Auswahl eines passenden Wissenstransferprozesses. Es ist in der individuellen Säule auf der Ebene der Vorbereitung zu finden. Dieses Muster ist über führt zu mit mehreren Folgemustern verknüpft, etwa Begleiteter Wissenstransfer oder Selbstgesteuerter Wissenstransfer.

Eine Grafiksprache zur Mustersprache

Wie in Abbildung 3 zu sehen ist, tragen einige der Muster bereits charakteristische Icons. Die Autor:innen haben ausgehend von den wichtigsten Beteiligten im Wissenstransfer (Wissensgeber:in, Wissensnehmer:in, Transferbegleiter:in, Führungskraft, Verantwortliche:r für den organisationalen Wissenstransferprozess) Basis-Symbole entwickelt, die in den einzelnen Mustern zu Icons kombiniert werden (siehe Tabelle 2).

Tabelle 2: Basis-Symbole für grafische Visualisierungen in der Mustersprache Wissenstransfer.

Beispiel eines Musters

Zur Illustration, wie ein Muster in der Mustersprache Wissenstransfer konkret aussieht, wird nachfolgend die Beschreibung des Musters Umgang mit der knappen Ressource Zeit mit den Kernelementen Kontext, Aufgabenstellung, Lösungsweg und Stolpersteine dargestellt. Das Muster befindet sich in der individuellen Säule auf der Ebene Vorbereitung. Diese Zuordnung des Musters weist darauf hin, dass oft schon vor dem Start eines Transferprozesses die Zeitknappheit klar ersichtlich ist.

Das Muster enthält auch Hinweise, wie mit Zeitknappheit während des Transferprozesses umgegangen werden kann. Diese Unschärfe in der Zuordnung des Musters in der Sprachstruktur ist der guten Lesbarkeit des Lösungswegs im Muster geschuldet. Eine Aufteilung in zwei Muster (vor und während des Trans­ferprozesses), die alternativ möglich wäre, erscheint den Autor:innen als künstliche Trennung, die keine praktischen Vorteile bei der Anwendbarkeit der Lösung bieten würde.


Umgang mit der knappen Ressource Zeit

Kontext
Vor oder während eines Wissenstransferprozesses stellt sich heraus, dass die verfügbare Zeit knapp werden wird (insbesondere bei -> Wissenstransfer zwischen Führungskräften), um möglichst viel Wissen zu übertragen bzw. zu sichern. Sowohl Wissensgeber als auch Wissensnehmer unterstützen den Wissenstransferprozess.

Aufgabenstellung
Wie gelingt es trotz knapper Zeitressourcen, möglichst viel relevantes Wissen, im Besonderen auch Erfahrungswissen, zu transferieren und damit für die Organisation zu sichern?

Lösungsweg
Begleiteter Wissenstransfer ist eine strukturierte Vorgangsweise. Er ermöglicht einen effizienten Übergabeprozess, der sich gut in den Arbeitsalltag aller Beteiligten integrieren und optimal gestalten lässt. Dadurch wird gewährleistet, dass die für den Transfer zur Verfügung stehende Zeit bestmöglich genutzt wird.

Prozessklarheit (was passiert wann, wie, mit welchem zeitlichen Aufwand) ist hier die Lösung. Diese kann entweder durch einen erfahrenen Wissenstransfer-Begleiter realisiert werden (wie hier beschrieben) oder durch eine andersartige effiziente Strukturierung des Prozesses (klare Visualisierung der Prozessschritte, Leitfragen etc.).

Um die Zeitproblematik im Rahmen eines Wissenstransferprozesses in den Griff zu bekommen, wird der ganze Prozess wie ein Projekt vor dem Start gut geplant. In Vorgesprächen wird geklärt, wieviel Zeit der gesamte Transferprozess voraussichtlich beanspruchen wird.

Ein Transferplan (-> Transferplan prozessbegleitend erstellen) wird während des gesamten Wissenstransferprozesses begleitend eingesetzt. Er enthält alle Transfer-relevanten Aktivitäten und ist ein „lebendes“ Dokument. D.h. während des gesamten Prozesses werden offene Punkte ergänzt bzw. als „erledigt“ gekennzeichnet. Alle Beteiligten (Wissensgeber, Wissensnehmer, Führungskraft, Wissenstransfer-Begleiter etc.) planen die voraussichtlich benötigten Zeitfenster fix in ihrem Arbeitskalender ein und versehen die Termine mit der höchsten Priorität. Es wird ein Eskalationsprozedere mit der Führungskraft vereinbart für den Fall, dass Termine immer wieder verschoben bzw. nicht durchgeführt werden können.

Die verantwortlichen Personen für den Wissenstransferprozess sorgen dafür, dass der Prozess in passende Zeitabschnitte (idealerweise max. 1,5 Stunden, Aufmerksamkeitsspanne für Wissensabgabe und -aufnahme) und -abfolge aufgeteilt wird. Die Terminabfolge richtet sich nach den Gegebenheiten im Transferprozess. Wichtig ist, dass die Termine wie geplant stattfinden. Sobald es zu Terminproblemen kommt, wird die Führungskraft gemäß Eskalationsprozedere eingebunden. Es werden mehrere Lösungsszenarien durch Priorisierung von Wissensgebieten oder Wissenstransferschritten gemeinsam erarbeitet. Das optimale Szenario unter den gegebenen Umständen wird anschließend sofort umgesetzt. Ein mögliches Lösungsszenario kann ein Wissenstransfer als Sprint sein.

Stolpersteine

  • Der Wissensgeber und/oder -nehmer sagt geplante Termine ab, ohne Ersatztermine anzubieten. Der Transferbegleiter bittet die betroffene Führungskraft um Ursachenklärung.
  • Die Abfolge der Termine ist zu eng oder zu weit, so dass die Qualität des Transferprozesses leidet. Der Transferbegleiter versucht, unter Einbeziehung aller Beteiligten eine bessere Termingestaltung zu finden.
  • Immer wieder stellt sich heraus, dass Themen in der vorgesehenen Zeit nicht ausreichend tief besprochen werden können. Der Transferbegleiter überarbeitet gemeinsam mit allen Beteiligten den vorliegenden Terminplan und bespricht die Prioritäten der Themen.

Verbundene Muster
Begleiteter Wissenstransfer (erfordert)
Wissenstransfer als Sprint (erfordert)
Wissenstransfer zwischen Führungskräften (unterstützt)
Transferplan prozessbegleitend erstellen (erfordert)

Visualisierung der Beziehungen siehe in der Muster-Kurzbeschreibung


Fazit zur Methode und Lessons Learned

Beim Entwickeln einer Mustersprache ist die Art der Zusammenarbeit in der Gruppe ein kritischer Erfolgsfaktor. Ein offener Dialog beim Zusammentragen unterschiedlicher Erfahrungen liefert eine viel reichhaltigere Beschreibung als eine Diskussionskultur, die auf das Überzeugen Anderer mittels Argumenten fokussiert ist. Wenn unterschiedliche Erfahrungen vorliegen, also Lösungswege und Überzeugungen sich vermeintlich widersprechen, ist dies oft ein Indiz für unterschiedliche Kontexte. In solchen Situationen ist es angebracht, verschiedene Muster zu formulieren: „Wenn der Kontext ein anderer ist, schreibe ein neues Muster!“

Die im vorliegenden Beitrag beschriebene Vorgehensweise bei der Erstellung einer Mustersprache führt dazu, dass Erinnerungen aktiviert und expliziert werden. Die aktivierten Erinnerungen münden in den Erfahrungsberichten, die in den Mustern stecken. Das Erinnern kommt also beim Arbeiten an den Mustern und wird durch die Vorgabe entsprechender Musterabschnitte (z. B. Kontext, Spannungsfelder) gefördert.

Auch wenn die Versuchung groß ist, sich beim Schreiben treiben zu lassen – bei Lösungswegen, Stolpersteinen usw. muss sich die Gruppe disziplinieren und auf das Festhalten eigener, tatsächlich selbst gemachter Erfahrungen beschränken. Unbestätigte Ableitungen aus der Theorie bzw. in der Praxis nicht verifizierte Annahmen haben hier keinen Platz. Durch diese Disziplinierung ist gewährleistet, dass die entstehende Mustersprache nur Lösungen enthält, die sich in der Praxis bereits bewährt haben.

Für die Anwendbarkeit der Mustersprache ebenso relevant ist, dass die Lösungswege klare, operationalisierte Handlungsanleitungen enthalten. Durch die Anwendung dieser Lösungswege werden die beschriebenen Spannungsfelder abgebaut und die Stolpersteine entkräftet bzw. vermieden.

Die in die Mustersprache einfließenden Erfahrungen sollten auf der Mesoebene beschrieben sein, d. h. einen mittleren Abstraktionsgrad aufweisen. Einerseits sollten sie über ein einzelnes konkretes Anwendungsbeispiel hinausgehen, in dem Sinne, dass die beschriebenen Lösungen immer wieder in der Praxis erfolgreich bestätigt werden konnten. Andererseits dürfen sie aber nicht so stark abstrahiert sein, dass sie den Charakter von theoretischen Ausführungen annehmen, die den Bezug zum Kontext verlieren.

Mustersprachen leben von ihrer Anwendung. Eine Voraussetzung dafür ist, dass sie verständlich formuliert sind. Es ist daher hilfreich, wenn die Gruppe der Entwickler:innen Feedback von Fachfremden einholt, um die Muster im Reviewprozess sprachlich zu perfektionieren. Schlussendlich muss einer Gruppe, die eine Mustersprache entwickeln möchte, klar sein, dass es sich bei diesem Vorhaben um einen Marathon, nicht einen Sprint handelt. Der Austausch in der Gruppe, das Formulieren von Mustern, Verknüpfungen, Schlüsselwortauswahl und Zuordnung von Attributen brauchen Zeit. Und wenn eine Reihe von Mustern geschrieben ist, stellt sich oft im Review heraus, dass für Konsistenz und Verständlichkeit noch intensive Überarbeitungen erforderlich sind. Begibt eine Gruppe sich aber bewusst auf diesen langen Weg, wird sie mit einem explizierten Erfahrungsschatz belohnt, der in der jeweiligen Fachdomäne sicherlich seinesgleichen sucht.


Referenzen

Christopher Alexander, Sara Ishikawa, Murray Silverstein et al. (1977). A Pattern Language: Towns – Buildings – Construction. New York: Oxford University Press, ISBN 13: 978-0195019193, online (in Deutsch): https://einemustersprache.de/, Abruf: 30.12.2022.

Gamma Erich, Johnson Ralph, Helm Richard, Vlissides John (1994). Design Patterns. Elements of Reusable Object-Oriented Software. Addison-Wesley.

Grundschober, Isabell (2019). Eine Mustersammlung für Feedback. Feedback-orientiertes Lernen und Lehren mit dem ePortfolio in der Hochschule durch Handlungsmuster fördern. Masterarbeit an der FH-Burgenland, online in ResearchGate: https://www.researchgate.net/publication/333339394_Eine_Mustersammlung_fur_Feedback_Feedback-orientiertes_Lernen_und_Lehren_mit_dem_ePortfolio_in_der_Hochschule_durch_Handlungsmuster_fordern, Abruf: 30.12.2022.

Iba Lab & DFJI (Dementia Friendly Japan Initiative) (2014). Words for a Journey: The Art of Being with Dementia, Taking Action on Dementia: G7 Global Dementia Legacy Event Private Sector Side Meeting.

Iba, Takashi et al. (2017). Words for a Journey: The Art of Being with Dementia. CreativeShift Lab.

InterQuality Architekten GmbH & Konglomerat e.V. (2018). Die lebendige Stadt – eine Mustersprache für gute Zusammenarbeit. Online: https://stadtraum.jetzt/mustersprache, Abruf: 30.12.2022. Probst, Gilbert; Romhardt, Kai; Raub, Steffen (2013): Wissen managen: Wie Unternehmen ihre wertvollste Ressource optimal nutzen. 4. Auflage, Wiesbaden: Gabler.


Eingesetzte Werkzeuge

inside, Software für strategisches Wissensmanagement in Unternehmen und Organisationen, www.inside-workspace.de

Conceptboard, Online Whiteboard für digitale Zusammenarbeit, https://conceptboard.com/de/

MindManager, Mindmapping Tool, https://www.mindmanager.com/de/


Frankfurt Knowledge Group „Die Transfernaut:innen“

Angelika Mittelmann: Informatikerin mit jahrzehntelanger Erfahrung im Wissensmanagement, der Begleitung von Wissenstransfer- und Change Prozessen im industriellen Kontext, in der Lehre (Uni, FH), der Beratung und im Training; 2015 Knowledge Management Award; seit 2016 Mitglied des Beirats der GfWM.

Benjamin Nakhosteen: 20 Jahre interdisziplinäre Erfahrung im Wissensmanagement. Bis 2010 wissenschaftliche Leitung Drittmittelforschung, Lehrstuhl Technikdidaktik, TU Dortmund; zahlreiche Fachpublikationen; GTW-Wissenschaftspreis für die Dissertation “Technisches Erfahrungswissen in industriellen Produktionsprozessen”. Seit 2010 verantwortlich für Wissensmanagement bei thyssenkrupp Steel Europe. Beiratsvorsitzender GfWM 2016-2022.

Christine Erlach: Dipl.-Psych., Gründerin des Beratungsunternehmens NARRATA Consult, setzt seit den 90ern narrative Methoden in Organisationen ein, um verborgene Wissensschätze, Werte und Haltungen zu heben und nutzbar zu machen. Fortbildnerin und Fachautorin zahlreicher Veröffentlichungen rund um narratives Wissens- und Changemanagement.

Grit Terhoeven-Ackermann: Dipl.-Psych., hat die Transfer-Methode „Transferwerk“ bei der Salzgitter AG eingeführt. Sie begleitete viele bzw. begleitet nach wie vor Transferprozesse in unterschiedlichen Organisationen mit dem ergänzenden Schwerpunkt des Coachings im Transferprozess.Manfred della Schiava: hat als Wissensmanagement-Pionier der ersten Stunde die Entwicklungsphasen dieser Management-Bewegung mitgestaltet. Er ist Begründer des Wissensberater-Netzwerkes und der Wissensberatung-Methode. Sein Herzensanliegen ist das Wohlbefinden aller Menschen, damit der Austausch von Wissen mit Lebensfreude gelebt werden kann.


Über diesen Beitrag Text: Angelika Mittelmann, Benjamin Nakhosteen, Christine Erlach, Grit Terhoeven-Ackermann, Manfred della Schiava · Redaktionsteam: Andreas Matern, Stefan Zillich · Bilder – Key Visual: Smithsonian Institution, USA, CC0; Abbildungen: AutorInnen des Beitrags · Editorial Design: Stefan Zillich, re:Quest Berlin · Veröffentlicht in: Das Kuratierte Dossier, Band 5 “Knowledge Management Essentials”, März 2023, ISSN (Online) 2940-1380 · Veröffentlicht von: Gesellschaft für Wissensmanagement e. V. · Gedruckte Ausgabe bestellen · Über die Reihe Das Kuratierte Dossier · © Autor / GfWM e. V. 2023 · Impressum: Creative Commons Attribution NoDerivatives 4.0 International (BY-ND)

Knowledge Management Essentials • Das Kuratierte Dossier, Band 5 • März 2023
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