Wissensmanagement: norm-al?

Dr. Maik H. Wagner, Institut für Wissensökonomie

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Mit Normen verbinden wir normalerweise genaue Vorgaben, Einheitlichkeit, Vorschriften, Kontrolle. Abweichungen von der Norm sind zu vermeiden, sonst passt der Stecker nicht. Wissensmanagement verbinden wir häufig mit Innovation, Ideen und Handlungsfreiräumen. Bitte bloß kein Schema-F, sonst fließen die Lösungen nicht. „Wissensmanagement zu normen“ hört sich gefühlt eher nach Totenschein an und nicht als Ausweis für ein ‚New Normal‘.

Im Herbst 2018 wurde mit der ISO 30401 Knowledge Management Systems – Requirements, erstmals ein ISO-Standard zum Thema Wissensmanagement veröffentlicht. In einem dreijährigen klar geregelten Entwicklungsprozess und auf Basis strikter inhaltlicher und formaler Vorgaben (der sogenannten High-Level-Structure) wurde Wissensmanagement ‚vernormt‘. Bei der ISO 30401 handelt es sich zudem um einen Standard des Typs A, vergleichbar mit der ISO 9001:2015 zum Qualitätsmanagement. Derartige Normen enthalten keine Empfehlungen oder Leitlinien, sondern Anforderungen. Vereinfacht gesagt geht es bei Anforderungen um Folgendes: Wenn du die Anforderungen nicht einhältst, bekommst du keine Zertifizierung und kannst damit auch kein Signal an Kunden:innen senden, dass dein Umgang mit dem jeweiligen Thema dem State-of-the-art (zumindest der ISO-Welt) entspricht.

Zum Glück sind die Anforderungen der ISO 30401 so formuliert, dass sie allen Formen von Organisationen möglichst viel Handlungsfreiheiten anbieten. Die Norm sagt also nicht: Du musst erstens, zweitens, drittens machen. Vielmehr sagt die Norm: Du musst Wissen ernst nehmen; du musst ein Bewusstsein über diese immaterielle Ressource entwickeln; und du musst Verfahren, Verantwortlichkeiten und Prozesse einführen, die der Natur der Ressource entsprechen, damit diese Ressource systematisch und mit Umsicht für die Ziele und Zwecke deiner Organisation entwickelt und genutzt werden kann. Welche konkreten Ziele du erreichen willst und welche Methoden du dazu konkret benutzt, darfst und musst du selbst entscheiden. Allerdings muss du einer dritten unabhängigen Partei zeigen können, dass du es ernst meinst und dass du ein Bewusstsein hast über die Möglichkeiten und Grenzen dieser personalen oder organisationalen Ressource, die wirksame Entscheidungen und wirksame Handlungen kontextabhängig ermöglicht (die ISO-Definition von Wissen).

Die Norm drückt also im Kern dasjenige aus, was schon ziemlich lange normal in Unternehmen sein sollte. ISO-Normen sind konservative Dokumente und keine innovativen Forschungspapiere oder Desiderate. Es wird nur genormt, was eine erkennbare Reife erlangt hat. Die Verabschiedung der Norm ist also ein klarer Indikator, dass Wissensmanagement normal geworden ist. Overdue normal. Was sind nun aber Kernpunkte der Norm? Die Norm geht davon aus, dass es sich bei Wissen, um ein Sachverhalt handelt, der von komplexer Natur ist. Wissen kann in unterschiedlichen Formen und Beschaffenheiten auftreten. Die Norm spricht von einem Spektrum, das von fachlichen Kenntnissen über zeichen-kodiertem Wissen bis zu bewusstem und unbewussten Erfahrungswissen reichen kann. Aus dieser Grundannahme ergibt sich, dass es für Wissensmanagement eine zentrale Aufgabe ist, entlang dieses Spektrums Wissen von einer Form in einer andere zu transformieren, je nach dem, welche Funktion Wissen in welchen Kontexten haben soll. Dabei ist die finale Transformation diejenige, durch die Wissen wirksame Entscheidungen und wirksame Handlungen anleitet. Wissensmanagement muss diese Wissensflüsse ermöglichen, fördern und steuern.

Die Kontextabhängigkeit von Wissen bedeutet, dass sich Wissen verändert, unbrauchbar wird, weiterentwickelt werden muss, wenn sich die Kontexte ändern. Und da sich Kontexte andauernd verändern, verändert sich das Wissen einer Organisation andauernd. Das Wissen durchläuft daher einen Life Cycle. Wissensmanagement muss diesen Life Cycle überblicken, gestalten und steuern.

Die ISO 30401 versucht zudem der Intangibilität von Wissen Rechnung zu tragen. Wissen kann nicht wie eine tangible Ressource wie Holz oder Stahl direkt gesägt oder gefräst werden, um daraus Produkte zu fertigen. Vielmehr müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die einen zielführenden Umgang mit Wissen ermöglichen und fördern. Gut geschulte Menschen brauchen ein entsprechendes organisationales Umfeld und geeignete technische Infrastrukturen, damit sie wirksam handeln und entscheiden können und so die Wissensflüsse am Fließen sind und sich der Life Cycle dreht.

Zudem darf normgerechtes Wissensmanagement nicht als l’art pour l’art betrieben werden. Das wäre für einen ISO-Standard ja noch schöner! Der Sinn und der Nutzen von WM-Aktivitäten ergeben sich aus den Zielen und Zwecken der Organisation. WM-Aktivitäten müssen sich rechtfertigen können, inwiefern sie einen Beitrag zur Zielerreichung der Organisation leisten. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass Wissensmanagement das Commitment der Unternehmensleitung braucht, um zu funktionieren. Wenn die WM-Ziele nicht aus den Unternehmenszielen abgeleitet werden können, weil die Unternehmensführung sich darum nicht kümmert, dann fehlt ein wesentliches Element für wirksames Wissensmanagement. Die Pflicht, die WM-Aktivitäten an die Leistungserbringung der Gesamtorganisation zu koppeln, kommt mit dem Recht, die notwendigen Infos dafür zu erhalten. Wenn die Unternehmensführung mit einem schönen ISO-Zertifikat extern den Markt beeindrucken will, dann muss sie im Gegenzug intern liefern. Operativ ist dieser Zusammenhang für Wissensmanager:innen unter Umständen sehr hilfreich, da man dadurch Türen zur Geschäftsführung öffnen kann.

Diese ISO-Aspekte von gutem Wissensmanagement sind nicht neu. ISO-spezifisch ist vielleicht die harte Handlungs- und Ergebnisorientierung von Wissensmanagement. Neu sind aber die Konsequenzen, die sich aus der Existenz der Norm ergeben: Wissensmanagement wird explizit kompatibel mit anderen Normen, sprich Managementdisziplinen. Wissensmanagement wird als wichtiges Element eines ganzheitlichen Managementsystems erkennbar – im Konzert mit Themen wie Qualität (ISO 9001), Risiko (ISO 31000) oder Innovation (ISO 56002). Für diese Kompatibilität sorgt unter anderem die High-Level-Structure als gemeinsamer Bauplan bzw. Anleitung vieler neuer ISO-Standards. Aus der Notwendigkeit, Wissensmanagement im ISO-Korsett auszubuchstabieren, ergeben sich also erhebliche Handlungsmöglichkeiten.

Für eine Norm ist die ISO 30401 noch sehr jung. Sie kann und wird kontinuierlich weiterentwickelt. Alle 3-5 Jahre gibt es eine Revision. Die Aufnahme der ersten Version war in der Fachöffentlichkeit international und in Deutschland durchaus positiv. Die ISO 30401 wurde auf Empfehlung eines Experten:innen-Workshops ins deutsche Normenwerk übernommen. Dieser Workshop wurde durch DIN und GfWM organisiert. Die GfWM war im Anschluss bei der Erstellung der deutschen Übersetzung formal eingebunden. Inhaltlich hat die entsprechende GfWM-Fachgruppe alle wesentlichen Entscheidungen getroffen. Sie war maßgeblich für das gute Gelingen der Übersetzung verantwortlich. Wir haben daher seit 2020 eine DIN ISO 30401 Wissensmanagementsysteme – Anforderungen.

Und die Unternehmen? Ich persönlich werde von Organisationen angesprochen, die ihr Interesse an der ISO 30401 bekunden. Ich höre das auch von anderen WM-Experten:innen. Der Markt reagiert also auf die Norm, auch wenn wir noch weit von einer Situation entfernt sind, die wir von der ISO 9001 kennen. Die Etablierung der ISO 30401 eröffnet mehrere Entwicklungspfade. Beispielsweise könnte der Markt für WM-Lösungen effizienter werden, insofern Lösungsanbietende klar markieren können, welche Anforderungen der Norm durch ihre Tools und Beratungsleistungen getroffen werden. Zudem könnte das Curriculum für die Ausbildung von WM-Experten:innen transparenter und ggf. einheitlicher gestaltet werden, was die Kooperation zwischen Bildungseinrichtungen, aber auch mit Unternehmen erleichtern würde. Darüber hinaus könnten aus meiner Sicht zwei Perspektiven besonders relevant sein.

Vertiefte Analyse: Die Norm erkennt zurecht an, dass Wissen als ein komplexer Sachverhalt zu betrachten ist, der in unterschiedlichen Formen und Typen mit unterschiedlichen Beschaffenheiten und Eigenschaften auftaucht. Ich glaube, ein genaueres Verständnis über diese Beschaffenheiten und Eigenschaften würde das Verständnis über die „mechanics of the knowledge flows“ erhöhen. Es geht hier also nicht um die Unterscheidungen von explizitem/impliziten Wissen oder Grundlagenwissen/Praxiswissen oder unterschiedliche Wissensdomänen (Wissen von…). Es geht hier um die Bestimmung der Elementarteilchen von Wissen? Was erkennen wir, wenn wir den gemeinsamen Kern aller Sachverhalte analysieren, die mit dem Begriff „Wissen“ bezeichnet werden?

Erweiterter Blickwinkel: Die ISO 30401 betrachtet Wissen als Ressource für eine einzelne Organisation. Nun entwickeln sich aber zunehmend inter-organisationale Strukturen wie Ökosysteme, Netzwerke, Innovationskooperationen oder regionale Cluster heraus, bei denen Marktteilnehmer:innen ‚irgendwie‘ miteinander wissensbasiert interagieren (sollen). Diese Marktteilnehmer:innen sind nicht Akteure innerhalb einer integrierenden Organisation. Sie sind ggf. sogar Konkurrenten:innen, die ihr intellektuelles  Kapital voneinander abschirmen wollen. Wie könnte ein inter-organisationales Wissensmanagement aussehen? Kann es so etwas überhaupt in einem ernstzunehmenden Sinne geben? Würde beispielsweise ein Netzwerk der metallverarbeitenden Unternehmen in Mittelhessen besser werden, wenn der Wissensaustausch aktiv und systematisch gesteuert werden würde? Welche Institution sollten so etwas organisieren? Oder reichen wie gehabt regelmäßige Netzwerktreffen?

Falls das interessante Fragen sein sollten, würde ich mich freuen, wenn dadurch ergebnisoffene Diskussionen angestoßen werden.


Dr. Maik H. Wagner ist Managing Partner des Instituts für Wissensökonomie sowie Inhaber von MW Wissenskommunikation. Er ist Dozent an der Rheinischen Fachhochschule Köln im Masterstudien Digital Transformation Management. Zudem ist er DIN/ISO-Experte für die Themen knowledge, competence sowie learning&development. Er war Konsortialleiter für die Erstellung der DIN SPEC 91443:2021 Systematisches Wissensmanagement für KMU – Instrumente und Verfahren. Er ist Mitglied der GfWM und DGQ. – Er hilft Unternehmen, Risiken zu mitigieren, die durch den Verlust von Experten- und Erfahrungswissen drohen, schult Führungskräfte im Bereich Wissensmanagement und erstellt zusammen mit Christiane Hellmanzik Studien zur Wissensökonomie an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft.


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Über diesen Beitrag Text: Dr. Maik H. Wagner · Redaktion: Stefan Zillich, Andreas Matern · Abbildungen: Header: MichaelGaida / pixabay · Editorial Design: Stefan Zillich, re:Quest Berlin · Veröffentlicht in: Kuratiertes Dossier “Wissensmanagement – New Normal”, Online Magazin StartseiteGedruckte Ausgabe bestellen · Über die Reihe “Das Kuratierte Dossier” · © AutorInnen / GfWM e. V. 2021 · Kontakt zum Redaktionsteam