ISO 30401WeBlogWissensmanagement und Qualitätsmanagement

Der Wert von Gremienarbeit

Der DIN e.V. plant, die ISO 30401 ins deutsche Normenwerk zu übernehmen. Dazu wurde eine Übersetzung angefertigt, die von WM-Experten kommentiert und auf Richtigkeit kontrolliert wurde. Auch Mitglieder der Fachgruppe ISO 30401 waren eingebunden. Die Hauptarbeit bestand erstens darin, sicherzustellen, dass die Intention des englischen Originaltexts im Deutschen erhalten bleibt. Zweitens geht es um die richtige Verwendung des im deutschen Kontext gebräuchlichen WM-Fachvokabulars.

Lessons Learned aus der Textarbeit

Für mich war der Prozess der Übersetzung sehr lehrreich. Einige meiner Erkenntnisse gebe ich gerne weiter:

  • Es geht in einer Norm nicht um Stil, sondern um technische Formulierungen.
  • Wiederholung ist gut, Synonyme sind nicht gut: je öfter dieselben Begriffe genutzt werden, desto „klarer“ und „eindeutiger“ können Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden.
  • Die Unterschiede zwischen „kann“, „soll“ und „muss“ sind im Norm-Bereich beträchtlich. Man kann diese Modalverben nicht wie in der Umgangssprache üblich teilweise synonym verwenden.
  • Konjunktive und Indikative ergeben sich aus diesen Unterschieden und zeigen die Freiheiten in einer Norm auf oder aber schränken sie ein.
  • Kleine Unterschiede in der Wortbedeutung sind zentral: „Opportunity“ lässt sich als „ Chance“ interpretieren, um überhaupt etwas mit einer einschätzbaren Erfolgswahrscheinlichkeit zu machen. Es kann aber auch nur die Möglichkeit an sich sein, ohne Bezug auf seine Implementierungschancen. Je nach Kontext ergeben sich daraus ganz unterschiedliche Aussagen.

Vermeintliche Selbstverständlichkeiten

Als „Schnellleser“ und als „Vielleser“ sind Texte für mich sehr vertraut. Auch als „Vielschreiber“ ist es mir leicht möglich, die Seiten voll zu bekommen, Dinge zu explizieren und in eine (hoffentlich nicht nur für mich) sinnvolle Ordnung zu bringen.

Im Kontext der Normarbeit habe ich diese „Selbstverständlichkeiten“ revidieren müssen. Die Versuchung, die naheliegende Interpretation eines Begriffes zu nutzen, ist groß. Wenn zu den Ausdrücken aber auch noch die Funktion des Textes, der Kontext der Textstelle und die ganze „Philosophie“ von ISO-Standards berücksichtigt werden muss, erschließen sich ganz neue Perspektiven. Juristen ist diese Art der Textexegese bei der Auslegung von Gesetzestexten vertraut., für Sprachwissenschafter ist dies ohnehin das tägliche Brot. Für mich als Betriebswirt sind es Reminiszenzen an Studienzeiten, die nun plötzlich im Kontext Wissensmanagement wichtig werden:

  • Wieviel Zeit geben wir der Formulierung einer Lesson Learned? Eine Norm lässt sich ebenfalls als eine Sammlung von Lessons Learned interpretieren. Die Frage gilt aber auch für Beiträge zu einem Unternehmenswiki und andere „zentrale Texte“.
  • Wie präzise sind „Anforderungen“ wirklich?
  • Wieviel Wissen fließt in die Formulierung ein und wie gut gelingen Formulierungen dann, um den „Geist der Aussage“ korrekt darzustellen?
  • Welche Interessen verfolgen die Autoren des Textes?

Aufwand und Nutzen

Diese und andere Punkte werden bei der intensiven Bearbeitung von etwa 20 Seiten Text erst in der Nachbetrachtung klar. Jeder des Expertenteams hat den Text zunächst vollständig gelesen, dann in Abschnitten als „Erstbearbeiter“ mit dem Originaltext und der Deutschen Rohübersetzung verglichen und Problemzonen identifiziert sowie kommentiert. In der nächsten Phase wurden jeweils die Kommentare der anderen Experten zu den restlichen Textstellen bearbeitet. Dieser arbeitsteilige Prozess sparte enorm viel Zeit im Vergleich zu „jeder liest und kommentiert alles“. Abschließend wurden alle Inputs konsolidiert und nach einer Qualitätssicherung freigegeben, an DIN übergeben und einzelne offene Punkte nochmals gefeedbackt.

Trotz der hohen Effizienz und Effektivität hat das Projekt inzwischen mehr als 70 Stunden hochkonzentrierter Experten-Arbeit konsumiert. Jede Seite hat im Schnitt 3,5 Stunden Denkzeit an Aufwand verursacht – nur für die Übersetzung, nicht für die Erstellung der Norm! Das ist viel – andererseits kann von einem guten und lesbaren Text auch eine große Leserschaft profitieren? Der Nützen insgesamt wird sich also erst noch herausstellen müssen.

Gemeinsames Verständnis

Für mich war das Lernerlebnis am wichtigsten. Als Ergebnis eines mehrmaligen, extrem intensiven und wortgenauen Leseprozesses konnte ich mir viele Details der Norm erschließen, von denen ich beim ersten drüber scannen vor etwa einem Jahr nur eine erste Ahnung entwickelt hatte. Es geht um eine Managementnorm, um Anforderungen, um Abgrenzungen und um Schnittstellen. Mit Fortschreiten des Projekts ging diese Ahnung in Erstaunen über, was denn daran „so kompliziert“ werden konnte. Und schließlich kam der Durchbruch. Die Vielzahl der Interpretationsmöglichkeiten, vor allem aber das gemeinsame Verständnis über Begriffe, dass nun zumindest im Groben in unserer international besetzten Arbeitsgruppe entwickelt wurde, ist ein enormer Nutzen und Vorteil, aus dem sich für zukünftige Projekte effektiveres und effizienteres Arbeiten ableiten lässt. „Wir“ kennen die Norm nun und „wir“ haben uns einen Anwendungskontext erschlossen.

Für mich ist das ein exzellentes Beispiel, wie der Wissensbestand von mir als auch eines Teams der GfWM um ein Kapitel – diese Norm – erweitert werden kann. Gleichzeitig ist es auch ein Indikator, also nur ein Hinweis, für die sehr unterschiedlichen Kompetenzschwerpunkte und -niveaus der beteiligten Fachgruppenmitglieder untereinander. Erst die intensive ARBEIT kann andeuten, was bei den anderen Teammitgliedern noch an weiterem Wissen, an Erfahrungen sowie Kompetenzen zu finden sein könnte. Das beginnt beim (vermeintlich selbstverständlichen) Umgang mit der technischen Kommunikation (Teams), Details bei der dezentralen Nutzung von Texterarbeitungsprogrammen und geht weiter zur Sprachkompetenz. Wortbedeutungen, semantische Aufladungen und mögliche Interpretationen sind deutlich mehr als eine Liste im Wörterbuch. Und es geht weiter mit Grammatik, Genetivkonstruktionen und ihrer speziellen Bedeutung. Und schließlich geht es auch – wieder einmal – um die ewig spannenden Fragen: was ist Wissen, Wissensmanagement, wie könnte es definiert werden und und und …

Aus meiner Sicht war dieses Übersetzungsprojekt trotz des hohen Zeitaufwands für mich und die ganze Gruppe ein tolles Erlebnis von gelungener „Fachgruppenarbeit“. Danke an alle, die das nicht zuletzt aufgrund ihrer professionellen Haltung und hohen Motivation ermöglich haben.

Das GfWM-Team bestand aus: Dr. Maik Wagner; Dr. Manfred Bornemann; Dr. Herwig Rollett; Ute John; Dr. Pavel Kraus; Prof. Dr. Peter Pawlowsky.