FachgruppenWeBlog

Geweihte und Nichtgeweihte – Experten im WM lassen sich klar differenzieren

– eine Replik auf Stefan Zillich im Februar 2020

Was ist Wissensmanagement? Und mit Blick auf Inhalte und Beteiligte: Was kann (und darf?) damit etikettiert werden? Und wer vergibt das Etikett? Geweihte und Nichtgeweihte – Gerade bei der letzten Frage ergibt sich manchmal der Eindruck, dass die daran Beteiligten sich selbst in „Geweihte“ und „Nichtgeweihte“ einteilen: Wer legt fest? Wer folgt? Und wer folgt nicht?

Stefan Zillich stellt seit langem als zentraler Akteur der GfWM sehr wichtige und spannende Fragen. Ich möchte jene aus dem GfWM-Newsletter vom Februar 2020 aufgreifen.  

Im Kern geht es hier aus meiner Sicht um ein sehr wichtiges Thema, das aber leider völlig inkonsistent zu anderen Fachthemen diskutiert wird. Nur selten wird die Rolle eines „Steuerberaters“ hinterfragt – „der kennt sich mit den Gesetzten aus (und hat hoffentlich eine Lücke speziell für mich, um ein paar Euros zu sparen?)“, eines Qualitätsmanagers („der pflegt die nötigen Checklisten und schafft uns den Ärger mit den Auditoren vom Hals“), oder eines HR-Managers („die erstellen Dienstpläne, Gehaltsstufen, Karrierepläne, Schulungen und so“). Der Weg zum Spezialisten verläuft immer über mehrere Stufen von mehr oder weniger formalen Ausbildungen und Aufgabenerweiterungen, wobei die Komplexität der Aufgaben als auch der Instrumente mit der Organisationsgröße korrelieren.

  • Warum soll die Expertenselektion im Wissensmanagement anders als in anderen Disziplinen sein?
  • Warum soll „jedermann“ einen Expertenstatus behaupten dürfen, ohne sich legitimieren zu müssen?
  • Wie kam es, dass sich im Wissensmanagement ein Selbstverständnis etablierte, jeder könnte als Spezialist mitreden und statt mit Argumenten oder gut belegten Beispielen mit Glaubenssätzen oder Überzeugungen auftreten?

Die Identifikation von „Geweihten im WM“ erscheint mir nur sinnvoll mit einer (impliziten oder expliziten) Annahme: WM kann jeder, darf jeder und vielleicht auch: muss jeder beherrschen? Ich sehe das als einen der entscheidenden und sehr bedauerlichen Irrtümer, eines der zentralen Argumente GEGEN Wissensmanagement, weil es den professionellen Anspruch bereits an der Wurzel untergräbt.

Die Entwicklung eines Wissensmanagers

WM „kann“ (=beherrscht) nach meiner Erfahrung nur eine sehr überschaubare Anzahl an Spezialisten – obwohl es grundsätzlich jeder lernen könnte! Über den individuellen Vorteil einzelner WM-Masterstudienangebote mag jeder selber urteilen, aber es gibt sie. Viele schließen diese Studien sehr erfolgreich ab. Andere entwickeln über die Zeit einen eher angewandten Zugang zum Thema, doch selbstverständlich ermöglicht auch dieser Weg, ein sehr tiefes Verständnis über Wissensmanagement aufzubauen. Es gibt aber sehr viele, die über den Begriff WM alle möglichen Ideen verkaufen, die an einem Ende teilweise in der Esoterik verankert sind (siehe dazu interessante Annahmen zum Thema „Unternehmenskultur“), am anderen Ende in technologischen Lösungen, die weder mit „Wissen“ noch mit „Management“ etwas zu tun haben (Beispiel Datamining – das enorm interessant ist, vor allem aus der Sicht der „Formalwissenschaften“, aber eben kein WM).

Vermutlich stehe ich mit unter dem Verdacht, mich als selbst „Geweihter“ zu sehen und Etiketten zu verteilen, auch wenn mir persönlich die englische Bezeichnung als „Professional“ näher liegt. Oder vielleicht ist es nur die Gewohnheit, aus der täglichen Arbeit als Autor von Studien oder Methodentexten, „wissenschaftlicher Reviewer“, als Lehrer oder als Berater zu kommentieren und vor allem zu werten: das ist gut (i.S. von nützlich), passt zu Bestehendem (body of knowledge), ändert etwas (eine neue Perspektive), oder aber widerspricht bestimmten (formalen / logischen) Kriterien. Seit mehr als 20 Jahren verkaufe ich es als meine Kernkompetenz, bei der Bewertung helfen zu können und bin bisher damit auch durchgekommen.

Die Rolle eines Reviewers als Beispiel: Führende Experten im Wissensmanagement lassen sich klar differenzieren.

Insofern scheint es zumindest eine faktische Rolle zu geben für jemanden, der entscheidet, allein oder im Team, ob etwa ein (wissenschaftlicher) Artikel den üblichen formalen, logischen und fachlichen Kriterien entspricht, die ein internationales Journal (z.B. Journal for Knowledge Management) oder die Organisatoren einschlägiger Konferenzen (z.B. ECKM) an Beiträge anlegen. Dazu gibt es normalerweise einen zweistufigen Prozess, der auch neutral moderiert wird und strickt anonym ablaufen soll.

Im Idealfall werden vom Reviewer Hypothesen geprüft, Daten im Kontext der präsentierten Modelle nachgerechnet, Aussagen auf Plausibilität geprüft und manches mehr. Falls sich Auffälligkeiten ergeben, werden diese beschrieben, vielleicht sogar mit einem Verbesserungsvorschlag versehen – das aber eher in Ausnahmefällen, weil dann ja die „eigene Leistung“ von der Review schon in Mit-Autorenschaft übergehen könnte und damit die Interessenfreiheit gefährdet sein könnte.

Reviewarbeiten sind strikt ehrenamtlich – im Gegensatz zum inhaltlich ähnlichen Gutachten. Der Reviewer investiert Zeit ins Lesen der vorgeschlagenen Beiträge. Manchmal entsteht daraus ein winziger zeitlicher Vorsprung gegenüber anderen Lesern, der aber durch „pre-publishing“ zunehmend verkürzt wird. Wesentlich mehr Zeit fließt in die Formulierung des Feedbacks. Gute Beiträge sind sehr einfach zu begutachten – Plausibilität kann bestätigt werden, alles gut, die Publikation wird „mitverantwortet“. Sobald der Artikel erscheint, kann die gesamte „Scientific Community“ ihrerseits Stellung nehmen und entweder auf den Artikel aufbauen, oder ihn auch kritisieren.

Mehr Aufwand entsteht bei der Nicht-Freigabe eines Beitrages. Um Willkür zu minimieren sind Begründungen nötig und wichtig. Ein „Gefühl, da passt etwas nicht“ genügt nicht, es muss expliziert werden, sodass der Autor damit arbeiten kann. Er braucht klare Hinweise über nicht schlüssige Hypothesen, formale Fehler oder andere Problemzonen, um in einer Überarbeitungsphase diese Schwachstellen zu minimieren. Wer „nur durchwinkt“ fällt als Reviewer genauso bald aus dem Kreis, wie jemand, der „grundsätzlich verreißt“, also negativ (ab)wertet. Wenn sich mehrere Reviewer einig sind, spricht das tendenziell für ähnliche Ansprüche, große Abweichungen in beide Richtungen geben Anlass für Nachfragen durch den Herausgeber – die letzte und zentrale Instanz der Qualitätssicherung, die von vielen Schreibern als auch Lesern manchmal übersehen wird.

Damit wird das Schreiben wie auch die Review von Artikeln zum iterativen Prozess. Lernen, erkennen, innovieren zu einer planbaren Folge von Abläufen. Sie führt insgesamt zu bemerkenswert effizienten Fortschritten, und ist wertvoll für die (vielen) Leser eines Journals, weil eben die noch nicht ausgereiften Ideen, Berichte, Beiträge sehr systematisch gefiltert werden. „Gute Journals“ lehnen deutlich mehr Beiträge ab, als sie schließlich freigeben, je „angesehener“, desto höher die Ablehnungsquote. Die Review ist eine enorm wichtige Aufgabe, um unter anderem Zeit für die Leser zu sparen – nicht als Zensur, sondern um „offensichtlich nicht gute Texte“ zu eliminieren und damit die häufig thematisierten „fake news“ zu minimieren. Ein Journal hat meistens 10-20 Beiträge, jeweils zwischen 5000 und 12000 Worten. Die kleine Schrift, der dichte Stil machen das Lesen zur anspruchsvollen Aufgabe, die nicht immer bis zum Erscheinen der nächsten Ausgabe geschafft wird. Zeit, mit einem schlechten Beitrag zu verlieren ist für mich eine der größeren Strafen, die Lebenszeit ist verloren, die Wahrscheinlichkeit, vom selben Journal, nicht zu reden vom Autor, noch einen Artikel zu lesen, sinkt. Etablierte Journals versuchen, das möglichst zu vermeiden.

Lernen als gemeinsamer Akt von Autoren, Reviewern und Rezipienten

Warum also tut sich ein Reviewer diese Arbeit „unbezahlt“ an? Weil es im Kontext der Gegenseitigkeit notwendig ist und nur so sichergestellt werden kann, dass auch meine eigenen Einreichungen zumindest zweimal kritisch gelesen werden. Wenn jemand behauptet, „neue, innovative, anspruchsvolle“ Erkenntnisse gefunden zu haben, ist die Anzahl jener, die das bewerten können naturgemäß niedrig. Wäre es anders, wäre das Neue nicht so neu, jedenfalls aber nicht anspruchsvoll? Insofern ist das eine kleine Elite, die es dann aber eben doch schafft, die Inhalte der Kollegen, der „peers“ zu bewerten. Zentraler aber sehe ich den Umstand, sich mit einem Text kritisch zu befassen, ernsthaft zu versuchen, ihn zu verstehen, oder auch nur das, was der Autor vielleicht mangels praktischer Schreibkompetenz (Siehe: Explizierung!) nur anzudeuten vermag, aber eben nicht hinschreibt. Daraus entsteht LERNEN, so entsteht neues Verständnis, vielleicht sogar Wissen. Um eine der Fragen oben zu beantworten: Diese Elite schafft und deklariert sich wechselseitig selber – durch nachweisbare Leistungen und durch kontinuierliches Engagement. Selbstorganisation und Autopoesis – wie im Lehrbuch (siehe: Maturana, H.R. & Varela, F.J. (1980): Autopoiesis and Cognition. The Realization of the Living.)

Weil die Anzahl der Beiträge in Journals begrenzt ist, jedenfalls aber die Kapazität der Aktiven, diese neuen Erkenntnisse aufzunehmen, entsteht ein Wettbewerb um diese knappen Gelegenheiten zur „Fachpublikation“. Das bildet auch einen klaren Gegensatz zum Blog, den grundsätzlich jeder ohne weitere Qualitätssicherung schreiben kann, andererseits aber auch den Anreiz, seine Beiträge „gut genug“ zu entwickeln, um eben doch im Journal oder bei der etablierten Konferenz dabei zu sein. So funktioniert die methodische (=wissenschaftliche) Kontrolle, Qualitätssicherung und letztlich der Fortschritt in den einzelnen Themen. Nicht garantiert ist, dass es nicht dennoch gelegentlich zu (schweren) Fehlern kommt oder auch einzelne Anbieter aus niedrigen Motiven dagegen verstoßen! Ihre Reputation sinkt aber normalerweise sehr schnell – die Selbstheilung des Systems hat bisher ausgereicht.

Es ist eine zentrale Aufgabe im Wissensmanagement, Wissen von Nicht-Wissen, von Unfug klar zu unterscheiden! Dazu braucht es Prozesse wie etwa die Review und Wissende, die nicht nur „behaupten“ oder „deklarieren“, sondern nachvollziehbar, vielleicht sogar empirisch unterlegt, argumentieren. Weniger ist hier nicht statthaft und auch nicht ökonomisch haltbar!

Analog zum Wissenschaftsbetrieb gibt es im Kontext der Industriestandards – EFQM, ISO, DIN, u.a.m. – aber auch im Kontext des wirtschaftlich genauso bedeutenden Rechnungswesens Auditoren, die die anforderungsadäquate Erfüllung von Vorgaben prüfen. Wenn wir nun beispielsweise mit der ISO 30401 sogar einen Managementstandard für Wissensmanagement vorliegen haben, der demnächst auch in Deutsch verfügbar sein wird, dann braucht es Spezialisten, die genau diese Entscheidungen zur Normkonformität oder zum „Stand der Technik“ treffen können. Was ist gutes Wissensmanagement? Diese Frage lässt sich beantworten! Umgekehrt: wäre darauf jede beliebige Äußerung ohne kritischen Kommentar zulässig, könnten wir keinesfalls von einem „etablierten Thema“ sprechen, auf das mit Fokus auf die nun 20-jährige Geschichte auch der GfWM immer wieder gerne hingewiesen wird. Es ist nicht egal, wie Wissen geteilt wird, wie es in Geschäftsmodelle einfließt oder wie man es strategisch entwickeln möchte!

Der Anspruch an Wissensmanagement und Wissensmanager

Wir „Wissensmanager“ erfüllen noch immer nicht gut genug die hohen Erwartungen, die manche, insbesondere im Industriekontext an das Thema WM haben. Wir können aber zumindest in den Grundsätzen sehr klar differenzieren, welcher Hinweise zum Wissensmanagement aus welchen Gründen funktionieren kann und was wahrscheinlich nicht klappt. Wir haben sehr gute Werkzeuge zum Wissensmanagement, die Kompetenz dazu ist grundsätzlich nachweisbar.

Auch im Kontext der Anforderungen an Kompetenzkataloge, Zertifikate oder Curricula zum Wissensmanagement gibt es die berechtigten Fragen zur Qualität. Sie dürfen nicht nur gestellt werden, sie MÜSSEN auch beantwortet werden.

„Defensio“, Verteidigung lautet daher auch der Veranstaltungstitel der letzten akademischen Prüfungen zur Promotion oder Habilitation. Diese Türe steht jedem offen, der bereit ist, sich mit einem Thema so intensiv zu befassen, dass er es nachweislich verstanden hat und vielleicht sogar einen kleinen Beitrag zur Weiterentwicklung leistet. Wer der Kritik der Kollegen Stand hält, wird damit zwar nicht zum Geweihten, vielleicht aber zum Verschworenen? An den akademischen Eid, nach bestem Wissen zum Fortschritt der Wissenschaften beizutragen, durch Aufklärung, kritische Stellungnahme und rationale Argumentation möchte ich mich weiterhin so gut als möglich halten!