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Neue Perspektiven auf Erfahrungswissen: Beeindruckender Vortrag von Prof. Fritz Böhle am 31. Januar 2018 in Berlin

Prof. Fritz Böhle leitet aus den letzten fünf Jahrzehnten arbeitssoziologischer Forschung einen neuen Blick auf den scheinbar vertrauten Begriff des Erfahrungswissens her

Manche Vorträge sind echte Highlights. Für viele Teilnehmer des Fachforums »Wissens-und Kompetenzentwicklung – Lernen durch Arbeit und Erfahrungswissen« war der Vortrag von Prof. Fritz Böhle ein solches Highlight.

Die Resonanz war groß: Ursprünglich als keine feine Fachveranstaltung der Fachgruppe Kompetenzmanagement geplant, musste die Teilnehmerliste nach über 30 Anmeldungen geschlossen werden. »So voll war unser Raum noch nie.« So Dr. Ronald Orth, unser Gastgeber und Abteilungsleiter am Fraunhofer IPK.

Ein Grund dafür dürfte neben dem Renommee des Referenten Prof. Fritz Böhle, dem Vorsitzender des Vorstands des  Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. in München darin liegen, dass wir diese Veranstaltung in Kooperation mit dem Wissenschaftsjahr 2018 »Arbeitswelten der Zukunft« und der Zukunftsallianz Arbeit und Gesellschaft ZAAG durchgeführt haben.

Mit der u.a. Darstellung biete ich eine Aufbereitung meiner persönlichen Mitschrift an, ohne aber den Anspruch, damit eine vollständige Zusammenfassung des Vortrags abzubilden. Sicher hat jeder der Teilnehmer seine ganz eigenen Erkenntnisse an diesem Abend mitgenommen, denn auch solch ein Vortrag ist letztlich eine subjektive Erfahrung mit einer ebenso subjektiven Wissensentwicklung, doch dazu später mehr.

In jedem Fall werden wir im Kreis der Teilnehmer überlegen, ob und wie wir ein weiteres Treffen veranstalten, um zum Beispiel die Ideen und Erkenntnisse, die auch mit einem gewissen Abstand zur Veranstaltung selbst „hängen“ geblieben sind, zusammenzutragen und Implikationen für das Wissensmanagement auszuleuchten.

Hier nun mein Bericht: Nach einer kurzen Einführung meinerseits begann Fritz Böhle seinen Vortrag mit einem Überblick über die großen Entwicklungslinien der arbeitssoziologischen Forschungen seit den 60er Jahren:

Vom noch heute bekannten Konzept »Learning by doing«, das mit zunehmender Komplexität und Veränderungsgeschwindigkeit an seine Grenzen stieß, über die Humanisierungwelle der Arbeit in den 70ern als Reaktion auf die Erkenntnis, dass tayloristische Arbeit zu De-und Entqualifizierung führen kann (damals auch als »Bildungskatastrophe« bezeichnet), bis hin zu den ersten Ansätzen lern- und kompetenzorientierter Formen der Arbeits- und Unternehmensorganisation in den 80ern. »Arbeit darf nicht dumm machen!« so die Forderung der Forschungen zu jener Zeit.

In dieser Zeit wurden Dezentralisierung und Subjektivierung der Arbeit unter Anerkennung der wissens- und kompetenzförderlichen Rahmenbedingungen bedeutsam. Der Japan-Schock, der erfolgsgesättigte Konzerne wachrüttelte, tat ein Übriges.

Bemerkenswert dabei: Auch die damalige Welle der Humanisierungsforschung der Arbeit (HdA) sah in der Technisierung der Arbeit einen validen Ansatz, um die restriktiven Effekte und Wirkungen tayloristischer Arbeit abzufedern.

Was mit der Wiedervereinigung folgte, war eine Debatte hinsichtlich der Frage, ob Kompetenzen „geschult“ werden können oder erst im und durch Handeln entstehen. Durch die Wende gehe es darum, durch Weiterbildung das marktwirtschaftliche System zu vermitteln. Mit den breit angelegten Qualifizierungsmaßnahmen gelang das aber nicht richtig.

So rückte der Begriff der Schlüsselkompetenz in den Blick: Statt des Fachwissens wird die Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Selbstverantwortung die entscheidende Schlüsselkompetenz im Hinblick auf die Befähigung zum Handeln – beides Fähigkeiten, die im tayloristischen Arbeitsregime weder gefragt, noch hilfreich waren. Fritz Böhle weißt an dieser Stelle darauf hin, dass es wenig zielführend ist, umfangreiche Kompetenzkataloge zu entwickeln, da diese den Wert und Fokus der Schlüsselkompetenzen konterkarieren.

Aus diesem Verständnis heraus leitet sich die Differenzierung zum Wissen ab: Wissen selbst ist noch keine Kompetenz im Sinne der Befähigung zum Handeln. Wissen selbst mag eine Voraussetzung sein, ist per se aber nicht hinreichend für die Fähigkeit zum Handeln. Unternehmerisches Denken und Handeln, der Unternehmer im Unternehmen und marktähnliche interne Organisationsstrukturen (Center-Organisation) wurden gängige Managementkonzepte – an vielen Stellen mit der Voranstellung und Betonung des Wortes „Selbst“. Heute ist die herrschende Meinung, dass der Kompetenzbegriff der umfassende Begriff ist, der Qualifikationen einschließt.

Dieses Verständnis des Kompetenzbegriffs impliziert auch ein neues Verständnis vom Lernen im Prozess der Arbeit: Wenn der Erwerb von Kompetenzen nur in Teilen im Rahmen der institutionellen Bildungseinrichtungen möglich ist, dann ist die Kompetenzentwicklung an die Möglichkeit des Handelns gekoppelt. Diese Diskussion dauert bis heute an, denn natürlich nehmen Bildungseinrichtungen für sich in Anspruch, auch Kompetenzen zu vermitteln. Diesem Verständnis des Kompetenzbegriffes liegt zugrunde, dass die Situation der Kompetenzentwicklung und die Situation der späteren Anwendung der Kompetenzen sehr viel enger zusammenhängen, als bis dato gedacht.

So entsteht in den 90er Jahren eine breite Diskussion über das Lernen, auch mit deutlichen Impulsen aus dem internationalen Raum (Stichwort »Learning Organization«). Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass Kompetenzentwicklung neben dem formellen Lernen auch in hohem Maße auf informellem Lernen fußt: Informelles Lernen auch bei der Arbeit und auch im sozialen Umfeld insgesamt.

Die logische Weiterentwicklung dieser Erkenntnis waren Ansätze, auch das informelle Lernen mit geeigneten Mitteln gestaltbar zu machen und nicht nur dem reinen Zufall zu überlassen. In gewisser Hinsicht die Quadratur des Kreises: Informelle Lernvorgänge sollten formalisiert werden, ohne sie zu zerstören. Dazu galt es geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. So entwickelten sich die Ansätze des arbeitsnahen und des arbeitsintegrierten Lernens, die sowohl theoretisch, als auch praktisch immer im Spannungsfeld inhärenter Paradoxien stehen (organisieren ohne zu formalisieren, Lernen ohne es als Lernen erscheinen zu lassen, etc.).

In den 2000-Jahren verstärkt sich das Bild der Kompetenzentwicklung als selbstgesteuerter Prozess, für den es Rahmenbedingungen zu setzen gilt. Die Auflösung der o.a. Paradoxien führt vom Entweder-oder zwangsläufig zum Sowohl-als-auch: Sowohl unterstützt, als auch selbstgesteuert! Übrigens ein Paradigma, das nun durch die Digitalisierung und die damit einhergehende Personalisierung weiter ausgebaut wird.

Was auch in diesen noch gar nicht so weit zurückliegenden Jahren im Hinblick auf die Schaffung lernförderlicher Rahmenbedingungen jedoch nicht betrachtet worden war, ist die Arbeit selbst. Das ist der eigentliche Beitrag zum Stand der Wissenschaft durch das Projekt »Lernen durch Arbeit (Lernda)«, das am ISF München von Anfang 2015 bis Ende 2017 durchgeführt wurde. Besonderer Fokus dabei war wissensintensive Arbeit. Also die Art von Arbeit, bei der per se davon ausgegangen wurde, dass sie lernförderlich ist – eine Annahme, die jedoch keineswegs a priori zulässig ist. Denn letztlich ist es auch hier so, dass der permanente Zeitdruck, der letztlich vergleichbar mit tayloristischer Akkordarbeit ist, genauso dazu führt, dass die dominante Logik des Handelns immer das Gewohnte und das Bekannte bleibt. Nicht aber etwas Neues mit ungewissem Ausgang und unkalkulierbaren Risiken.

Die Praxispartner von LerndA waren mit Audi und Siemens jeweils Ingenieure im Bereich Betriebsmittelbau und im Projektgeschäft. Ausgangspunkt war der gemeinsame Eindruck, dass die Ingenieure immer besser ausgebildet seien, aber dennoch ihnen auch etwas fehle. Und zwar durchaus im fachlich-inhaltlichen Bereich. Sozialkompetenz oder Kommunikationskompetenz bringen Akademiker heute mit. Doch genau im fachlichen Bereich selbst, würden immer wieder Defizite festgestellt werden. Das sei nicht nur die Übersetzung von bildungsseitig vermitteltem Wissen in Können, also der Aufbau von Handlungskompetenz im o.a. Sinne, sondern auch der Aufbau von weiterem fachlichen Wissen selbst.

Diese fachliche Wissenskomponente wird bei erfahrenen Experten über die Jahre erfahrungsbasiert nur durch die Arbeit selbst aufgebaut. Folglich kann dieses Wissen auch nur im Prozess der Arbeit selbst entwickelt werden. Die Herausforderung des Lernens besteht damit in zweifacher Hinsicht: Dieses Wissen selbst zu generieren, weil es durch keine andere Quelle erworben werden kann, als im Prozess der Arbeit selbst, und dann außerdem dessen Anwendung und Übersetzung in eigene Handlungsfähigkeit auszubilden. Diese beiden Aspekte sind bis dato in der klassischen Diskussion um lernförderliche Arbeit nicht tiefergehend betrachtet worden. Hierin besteht der Beitrag vom Projekt LerndA.

Ein weiterer Eckpfeiler des LerndA-Ansatzes ist der Begriff des Erfahrungswissen. Mit Erfahrungswissen verbinden wir oft ein scheinbar bekanntes Konstrukt. Bei genauerer Betrachtung differenziert sich das Phänomen sehr breit aus. Kennzeichnend ist stets, dass Erfahrungswissen im Gegensatz zum systematischen Wissen schulischer Bildung im praktischen Handeln generiert wird.

Oft wird Erfahrungswissen mit dem Eisbergmodell erklärt. Im Erfahrungswissen fließen unterschiedlichste Erfahrungen zusammen, verstärken sich durch Routinen und stellen schließlich das dar, was in den Handlungsregulationstheorien der Psychologie als nicht mehr bewusstseinspflichtige Vorgänge bezeichnet wird. Mögen auch die ersten Anwendungen auch bewusste Erfahrungen gewesen sein, so geht das Handeln mit der Zeit »in Fleisch und Blut über«. Anders gesagt: »Übung macht den Meister.«

Die klassische Sicht auf Erfahrungswissen entsprach einer Mangelerscheinung: Wissen, dass durch »Learning by doing« entwickelt wurde, entbehrt einer systematischen Wissensgrundlage, wie sie nur die Wissenschaft und die Bildung legen könnten. Dieses oder jenes Wissen sei nur in der Praxis erworben, wenig reflektiert, ergo oberflächlich und vergangenheitsorientiert. Damit wird es zum Hemmschuh für innovative Entwicklungen. In diesem Zusammenhang machten sich Vorstellungen breit, dass für den Aufbruch zu neuen Ufern erst das alte Wissen verlernt werden müsse.

Erst in den 80er und 90er Jahren wendete sich dieses Verständnis: Das systematische Wissen der Schule und Universitäten ist per se immer in Disziplinen aufgeteilt, die jedoch in der Praxis so nicht disjunkt voneinander existieren. Anwendung von Wissen erfordert stets eine Re-Kontextualisierung. Systematisches Wissen ist per se immer de-kontextualisiert, denn nur dann ist es pauschalisierbar und auf unterschiedliche Kontexte übertragbar – es wird eine Übersetzung notwendig. So wurde die Kategorie des »Arbeitsprozesswissens« eingeführt, wie Dinge in der Praxis zusammenwirken. Es stellt eine eigene Wissenskategorie dar, die eine Re-Kontextualisierung ermöglicht.

Damit wurde auch die defizitäre Betrachtung des Erfahrungswissen überwunden. Erfahrungswissen wurde nicht mehr als Störfaktor beim Aufbruch zu Innovationen gesehen, sondern ist das einzige, was dazu hilft, mit dem Neuen umzugehen! Um Neuem gegenüber handlungsfähig zu sein, muss man in der Lage sein, selbst Wissen zu erzeugen. Dieses Wissen kann nur durch Erfahrung des Neuen gewonnen werden. Prof. Burkhard Lutz, der Gründer des ISF München, bezeichnete diese Fähigkeit als die »sich selbst schärfende Qualifikation des Facharbeiters«. Diese Erkenntnis erweiterte das Betrachtungsfeld des Erfahrungswissens auch um die Entwicklung von neuem Wissen.

Eine weitere Differenzierung ergibt sich aus der Möglichkeit und Fähigkeit, das Erfahrungswissen zu reflektieren und zu explizieren. So mag möglich sein, den sichtbaren Teil des Eisberges zu vergrößern und somit Erfahrungen in rationales und objektives Wissen zu überführen: Man kann darüber reden, es aufschreiben und so auch anderen mitteilen.

Auch Erfahrungswissen kann und muss somit in die Kategorien implizit und explizit unterschieden werden. Der nicht sichtbare Teil des Erfahrungswissen ist das, was zum Beispiel in Entscheidungssituationen umgangssprachlich oft als »Gefühlsentscheidung« oder »Entscheidung aus dem Bauch heraus« bezeichnet wird. Dieses implizite Erfahrungswissen scheint eine große Bedeutung für die Handlungsfähigkeit zu haben. Würde man diesen Aspekt nicht beachten, liefe man Gefahr, einen wesentlichen Teil des Erfahrungswissens auszublenden, oder gar seine eigentliche Substanz.

Michael Polanyi hatte die Differenzierung von explizitem und implizitem Wissen schon 1958 publiziert, wobei er von »tacit knowing« sprach und damit zum Ausdruck brachte, dass genau die Fähigkeit, Wissen sprachlich wiederzugeben, beim tacit knowing nicht vorliege (daher auch oft die Übersetzung mit »stilles Wissen«).

Die oftmals anzutreffende Gleichsetzung von Erfahrungswissen mit implizitem Wissen greift zu kurz, wenngleich im Erfahrungswissen letztlich immer auch implizite Anteile umfasst. Erfahrungswissen kann somit durchaus explizierbar sein und ist dann auch der Entwicklung von wissenschaftlich-rationalen Wissen zugänglich. Wissen wird letztlich immer durch die Wahrnehmung durch die Sinne entwickelt. Hinter diesem Zusammenhang steht die philosophische Frage nach der Bedeutung von sinnlicher Wahrnehmung für die Erkenntnis. Bekannt ist seit der Antike, dass Erkenntnis und Erkennen stets an die Wahrnehmung und Erfahrung der Umwelt gekoppelt sind. Insofern könnte man den Begriff der Wissenschaft auch als Erfahrungswissenschaft verstehen. Die Verwissenschaftlichung des Wissens führte über die Jahrhunderte jedoch zu einer Betonung des rational erklärbaren Wissens und zu einer indirekten Diskriminierung des Erfahrungswissens, zumindest in den Aspekten, die nicht in Sprache fassbar sind. Vielleicht mit ein Grund, warum Erfahrungswissen insbesondere, wenn es implizit ist, bis heute im Wissensmanagement immer wieder eine Herausforderung darstellt.

Auch implizites Wissen ist jedoch Wissen. Zwar werden Entscheidungen, die stark von implizitem Wissen geleitet werden, oft als »aus dem Bauch heraus« getroffen beschrieben. Das mag die häufige Gleichsetzung von implizitem Wissen mit Gefühlen und Empfindungen erklären. Nichts desto trotz ist die Klarheit solcher Entscheidungen eine andere: Man gewinnt die Sicherheit, die richtige Entscheidung zu treffen. Plötzlich ist die Entscheidung klar und man kann ggf. im Nachhinein sogar explizit begründen, warum eine Situation so oder so entscheidbar wurde.

Dem steht keineswegs entgegen, dass auch emotionale Aspekte Teil der Entstehung einer Entscheidung sind. Ganz im Gegenteil: Gerade die Vielzahl der nicht-rationalen Elemente der Entscheidungsfindung sind ja gerade der Ausdruck der Bedeutung des impliziten Wissens und des Erfahrungswissens insgesamt. Dazu gehören letztlich alle über die Sinne wahrgenommenen (»erfahrenen«) Vorgänge der Umwelt, also auch Geräusche, Gerüche und taktile Wahrnehmungen.